Flucht ist ein Glücksspiel

Es ist gut, dass wir so wenig spezialisiert sind. Deswegen stehen wir täglich vor den Fragen: Was machen wir hier? Warum? Und mit welcher Perspektive?

Die Endlichkeit unseres Seins vor Ort ist dabei immer ein begleitendes Thema.

Gestern haben wir zum ersten Mal bei einer Gruppe ausschließlich Lebensmittel vorbeigebracht. Es sind die drei Familien mit dem hoffnungslos-zuversichtlichen Vater. An dem Gesicht einer Frau können wir sehen, dass wir einigermaßen gut eingekauft zu haben scheinen. Reis, Mehl, Linsen, Öl, Gemüse, Curry, Salz, Zucker, Tee. Wir übergeben ihnen auch ihr jetzt einziges (Küchen)messer, damit sie die Melonen schneiden können.

Beim Pushback hatten sie „Glück“. Niemand wurde geschlagen und lediglich die Babytragen und das einzige Smartphone wurden zerstört. „Unsere“ Rucksäcke und ihr Gepäck durften sie behalten.

Weil sich jetzt herausstellt, dass eine der Frauen schwanger ist, kann Katja in das Haus gehen. Sie untersucht die Frau, stellt fest, dass es dem Baby gut geht und stellt einen Mutterpass aus. Sie sieht dabei auch, dass diese Familien tatsächlich nur das haben, was sie mit sich tragen. (In anderen Häusern sehen wir sonst auch alte Schuhe, alte Kleidung, Lebensmittel) Kleidung hängt auf Wäscheleinen vor dem Haus – sie haben noch nicht die Kraft verloren, für sich zu sorgen.

Wir fahren weiter und biegen ab auf ein altes Fabrikgelände, auf dem eigentlich nur noch die asphaltierten Flächen existieren. Wir treffen auf 20 von 40 dort lebenden Männern aus Pakistan. Auch sie haben Hunger. Wir haben nichts mehr. Sie bleiben trotzdem freundlich und wirken gut gelaunt. Wir bieten medizinische Hilfe an. Wir behandeln Fußverletzungen, geben Tipps gegen Juckreiz und Bachblüten gegen die innere Unruhe. Katja beobachtet dabei eine kleine Gruppe von Männern, die sich in den Trümmern des einzigen Gebäudes ihre Bärte mit einem Akkurasierer schneiden. Auch hier sorgen sie noch für sich. Und wir versprechen, in zwei Tagen wiederzukommen.

Wir spüren die unterschiedlichen Anspannungen. Hier Familienväter (die in der Regel mit uns kommunizieren), die ihre gesamte Familie im Blick haben müssen, dort einzelne Individuen, die sich als Gruppe organisiert haben. Beide Gruppen haben an diesem Tag Glück, dass wir ausgerechnet bei ihnen in ausgerechnet dieser Stimmung von ihnen und von uns vorbeigekommen sind.

Die drei Familien im Haus haben erkannt (und uns erzählt), dass sie als Gruppe zu groß seien. Beim letzten Game hatten sie ein Smartphone, dass sie zur Notgemeinschaft gemacht hat. Nun haben sie keines mehr. Die 40 Pakistani haben auch kein Smartphone.

Der Vater erzählt es eher resigniert. … Wir haben ein Smartphone dabei und diskutieren. Wir beschließen, jeder Familie einmalig ein Smartphone zu organisieren. Einem Vater geben wir das Smartphone nachdem wir uns von den anderen Vätern haben versichern lassen, dass wir ihnen in zwei Tagen auch je eines vorbeibringen. Der eine Vater mit dem Smartphone kann es kaum glauben und steht mit dem Smartphone in der Hand nur da. Hoffentlich sehen wir nach dem nächsten Game möglichst wenige Familien wieder. Für sie ist es eine Chance mehr. Nur eine Chance.

Den Pakistani würden wir auch gerne Smartphones geben. Die Zahl überfordert uns aber. Wir erklären es, weil wir natürlich gefragt werden. Der am besten englisch sprechende Pakistani gibt einen überraschenden Hinweis. Sie seien gut organisiert und hätten ein System. Wenn sie ein Smartphone besitzen, dann darf es jeder für eine Stunde nutzen und gibt es dann an den Nächsten weiter. Wir versprechen, in zwei Tagen mit einem Smartphone wiederzukommen.

Was wäre passiert, wenn uns die Familienväter bedrängt und gebettelt hätten? Hätten wir dann vielleicht entschieden, nur ein oder kein Smartphone organisieren zu können? Gleiches bei den Pakistani. Wie hätten wir entschieden?

Es ist gut, dass wir nicht spezialisiert sind. Denn dann hätten wir klare Regeln, die unser Leben erleichtern. So haben Katja und ich nur einen groben Leitfaden.

Wir werden den Familien nicht alle vier Tage neue Smartphones kaufen können. Einmal schon. Sie sind vorher irgendwie bis hierher gekommen und sie werden auch nach unserer Anwesenheit Wege suchen müssen. Dieses eine Mal war es einfach nur Glück für sie.

Push Back Tag

Wir sind wieder auf der Westseite in der Region Sturlic unterwegs. Schon am frühen Vormittag treffen wir viele Gruppen, die am frühen Morgen gepushbackt wurden. Darunter auch die drei Familien aus dem Haus von gestern. Über eine Wegstrecke von 3 km sind die 20 Personen in kleinen Untergruppen verteilt. Sie schleppen sich mit „unseren“ Rucksäcken und vielen Plastikbeuteln (die hauchdünnen) am Straßenrand entlang. Wir halten mehrmals an, begrüßen die enttäuschten Erwachsenen, verteilen Schokolade und neue Babytragen (nicht nur die Powerbank, die wir gestern ausgehändigt haben ist eingesackt worden, sondern auch die Babytragen sind den Familien weggenommen worden).

[ Babytragen werden hier nicht als Babytragen, sondern als Kindertragen für bis zu 4 Jahre alte Kinder genutzt. Der Verein „Babytragen spenden“ aus der Schweiz sammelt schon seit 2015 u.a. für uns gebrauchte Babytragen. Innerhalb von zwei Wochen nach Bitte um diese Tragen erhielten wir riesige Kartons mit 50 supertollen Babytragen, darunter auch Tragen für Neugeborene. An dieser Stelle noch einmal einen großen Dank, an euch, liebe Aktivist*innen aus der Schweiz ]

Vier-Jährige sitzen supergerne in diesen engen Tragen und fühlen sich vielleicht auch ein wenig „durchs Leben getragen“

Bevor die Familien ihr „Haus“ erreichen bringen wir noch Trinkwasser zur Begrüßung hin. Sie fragen nach Essen. Heute haben wir nichts dabei, der Kofferraum ist voll mit medizinischem Equipment und Wasser.

Wir fahren weiter und reichen noch an weiter „Wandergruppen“ Schokolade und Wasser und kommen dann zu dem Haus auf dem Berg, wo vorgestern noch 80 Menschen lebten. Heute ist es stiller hier. Leider ist die Frau mit dem Kaiserschnitt und Baby tatsächlich schon wieder „on the game“. Eigentlich hätte ich mir gerne noch einmal ihre Wunde angeguckt. Auch das hustende Kind, das zusätzlich einen heftigen Mundsoor hatte, wollte ich heute behandelt. Aber alle Familien von vorgestern sind unterwegs. Die 20 neuen Bewohner*innen freuen sich über das Wasser und wir können ein paar Dinge medizinisch versorgen: Krätze bei nur zwei Menschen (wir lassen Essig da), Zahnschmerzen (wir geben einem Jungen eine Mundspülung), Hautauschlag (wir geben Combudoron gegen den Juckreiz und beruhigen, dass es nichts schlimmes ist). Viele kleinere Probleme entstehen besonders durch die fehlende Körperreinigung auf Grund des Wassermangels und die fehlende Wechselkleidung.

[Essig gegen Krätze: In Serbien 2017 haben wir zusammen mit Falko ein Scabie-Wash Programm entwickelt. Grundgedanke war der, dass die chemische Keule Permethrin immer nur über ärztliche Verschreibung in den Durchreiseländer für Migrant*innen erhältlich ist. Wir behandeln alternativ mit Essig, das lindert den Juckreiz und kann in Verbindung mit frischer Kleidung (alte Kleidung eine Woche in Müllsäcken irgendwo verschlossen lagern) die Krätze zurückdrängen. Vorteil: Essig ist überall in der Welt preisgünstig erhältich; Migrant*innen haben eigenen Zugang zur Therapie und werden nicht abhängig von medizinischen Hilfsstrukturen; gesundheitliche Schäden werden vermieden. Mehr könnt ihr hier lesen (leider nur in englisch)]

Oben auf dem Berg steht das Haus ohne Wasser und Strom mit heute nur 20 anwesenden Menschen. Matthias berät bei Hautproblemen.

[ zu unseren Fotos: Vielleicht findet ihr unsere Fotos immer etwas unpersönlich. Das finden wir auch selber. Aber wir schützen das Recht der Menschen auf digitale Privatsphäre und versuchen, wo auch immer es passt, möglichst keine Gesichter in Nahaufnahme zu zeigen. Wer weiß, wo das Bundesamt für Migration oder ähnliche Behörden die Recherchen anstellen – und Gesichtserkennungssoftware ist mittlerweile nicht nur beim Militär erhältlich und einsetzbar]

Dann biegen wir ab zu einem neuen Haus. Auch dort gibt nur kleinere Hautprobleme und Überdehnung der Achillessehne und die „üblichen“ Kopfschmerzen („mehr Trinken“ als Beratungskern kann hier zum Glück umgesetzt werden, da der Nachbar immer mal wieder eine Wasserentnahme auf seinem Grundstück zulässt).

Auf dem Rückweg kommen Anfragen per Facebook. Morgen bringen wir Essen für 20 Personen nach Sturlic (den Großteil haben wir schon heute abend eingekauft) und neue Kleidung für zwei Männer aus Afghanistan.

Und wir checken das Vereinskonto und freuen uns über neue Spenden von euch. Herzlichen Dank dafür!!!!!

Ein neues Game beginnt

Gestern sind uns einige Mitglieder von drei Familien aus einem Haus begegnet. In diesem Moment hatten wir für sie nur etwas Wasser und Babytragen. Und unseren Facebook-Account. Über ihr einziges Smartphone haben sie uns dann gestern Abend kontaktiert und um materielle Hilfe gebeten. Heute Abend wollen sie wieder ins Game. 8 Erwachsene und 12 Kinder.

[Game: Der Begriff ist hier allgegenwärtig. Er beschreibt den Versuch der Grenzübertritte der People on the Move Richtung EU. Er wird von allen genutzt. Den People on the Move, den Aktivist*innen und Mitarbeiter*innen der NROs, den Verkäufer*innen in den Geschäften.]

Sie haben für jede Familie um je drei Schlafsäcke, je ein Zelt und je einen Rucksack gebeten. Sie erklären dabei, dass eine Familie keinen Schlafsack besitzt, eine Familie einen und eine Familie zwei Schlafsäcke.

Mit was wollten die Familien eigentlich loslaufen, wenn sie am Vortag noch solche Wünsche äußern?

Wir besorgen alles. Naja, Dinge, die hier so genannt werden. Die Schlafsäcke scheinen für diese Jahreszeit wohl brauchbar zu sein. Zumindest berichtete uns das die Familie aus dem Schulhaus, denen wir auch zwei besorgt hatten. Die sogenannten Zelte sind 2×2 Meter groß und laut Verpackung für 5 Personen. Wir sehen sie immer wieder in den Unterkünften. Für uns würden wir sie wahrscheinlich nicht einmal zum Spielen für die Kinder in den Garten stellen. Und auch die Rucksäcke sind nicht das, was zumindest ich bei einer mehrtägigen Wanderung nutzen wollen würde. Aber sie sind ein hier übliches Modell.

In der Umgebung von Sturliĉ gibt es nicht viele Quellen, sodass auch Wasser ein Problem ist.

Ein Vater hofft, dass sie im Zweifel auf gute Polizisten treffen und sie nicht geschlagen werden und nicht ihr gesamtes Habe zerstört oder geklaut wird. Sie versichern sich auch, dass sie sich bei uns melden dürfen, wenn sie wieder nach Bosnien deportiert werden. Hoffnung und Zuversicht?

Schmeißen wir hier Geld zum Fenster raus? Heute gekauft, morgen von der Polizei verbrannt und übermorgen vielleicht wieder neu gekauft?

Gestern eine Kaiserschnittnaht versorgen und morgen Verbandkontrolle. Mit etwas Glück ist die Wunde in einer Woche verheilt und das Problem ist gelöst. Eine echte Problemlösung, entstanden als „Nebenprodukt“ des schönen Ereignisses der Geburt eines kleinen Menschens. Gut investiertes Geld in das große Pflaster (das in diesem Falle eine Sachspende war).

Schmerzbehandlung, Lebensmittelversorgung und der Kauf von Schuhen und Co. lösen keine Probleme, sondern lindern nur Symptome. Und da ist es eigentlich egal, ob wir Geld für Obst, Paracetamol oder Schlafsäcke ausgeben. Wer entscheidet, was wichtiger ist? Die Menschen sind auf dem Weg.

Aber vielleicht hilft dem Vater in seiner Hoffnungslosigkeit die Zuversicht beim nächsten Scheitern, vielleicht wieder einen wärmenden Schlafsack für seine Familie und sich zu bekommen.

UN schaut zu

Auf Grund der Polizeigewalt in Buzim lassen immer mehr Flüchtende diesen Ort rechts liegen und vermeiden die Nähe zu Buzim. Aus diesem Grund haben wir uns heute in die Region Sturlic aufgemacht. Es ist genau die westlichste Ecke des Kanton Una-Sana und dort gibt es sogar einen richtigen Grenzübergang.

Wir finden People on the Move in einem Haus hoch oben auf einem Hügel, mit Blick auf Kroatien. Das Haus besteht nur noch aus den Außenmauern, ein paar Innenmauern und dem Dach. Es gibt kein Wasser, keinen Ofen und natürlich keinen Strom. Ca. 80 Menschen leben hier vorübergehend, darunter ca. 40 Kinder, 30 Tage alt ist das Jüngste.

Eine Familie mit einem 10 Monate alten Baby lebt in einem kleinen 2 Personenzelt auf dem Vordach des Hauses ohne Absicherung zu den Seiten. Dort werde ich gebeten, mich um das kranke Kind zu kümmern. Es hat Husten, kann aber kräftig abhusten. Medizin wird von mir verlangt. Zum Glück frage ich nach Medizin, die vielleicht schon vorhanden ist. Ein Plastikgefäß kommt zum Vorschein mit Paracetamolsaft, Prospan-Hustensaft und einem antibiotischen Saft. Das Kind ist super gut versorgt- aber es würde nichts helfen, sagt die Mutter. Natürlich wirkt so ein Hustensaft nicht wie eine Paracetamoltablette. Es braucht seine Zeit. Ich erhöhe die Menge der Verordnung für den Hustensaft, ansonsten braucht das Kind nichts mehr – (als Ruhe, ein sicheres Zuhause, genug Flüssigkeit…) Die Mutter ist sauer, dass ich kein anderes Medikament verschreibe.

Auf dem Vordach des Hauses
Auf dem Vordach des Hauses

Oben im Haus, diesmal drinnen, „wohnt“ eine Frau, die heute vor einem Monat mit Kaiserschnitt ihr Baby im Krankenhaus von Bihac geboren hat. Seit der Entlassung hat keiner auf die Kaiserschittnaht geguckt. Das Pflaster von der Geburt klebt noch auf der Wunder. Ich entferne das Pflaster und die bisher nicht gut verheilte Naht kommt zum Vorschein. Nach Desinfektion spüle ich die Naht und klebe wieder ein großes steriles Pflaster drauf. Eigentlich wäre viel Luft gut, aber unter diesen hygienischen Bedingungen ist eine Abdeckung notwendig, sonst heilt sie noch schlechter. Morgen oder übermorgen geht es wieder „on the Game“- ein neuer Versuch in die EU zu kommen. Dem kleinen Baby geht es sehr gut. Es ist zu warm eingewickelt, hat geschwitzt, aber dass kenne ich schon von meiner Arbeit mit Geflüchteten im Wendland. Der Nabel ist zum Glück super gut verheilt, es hat einen Windelsoor, den ich behandele und hat seit der Geburt dank der Muttermilch schon 1 kg zugenommen. Es ist ein wunderbar kräftiges Mädchen, dass trotz des Weckens durch das Wiegen mit großen Augen zuhört, was ich alles erzähle. Sie wird ihren Weg gehen.

Kurz vorm Fahren kommt ein VW-Bus vom IOM (International Organization for Migration). Sie verteilen ein paar Plastiktüten mit Lebensmitteln, längst nicht ausreichend für alle. Auch Wasser haben sie nicht genug dabei. Sie kommen unregelmässig, die Menschen können sich nicht auf sich verlassen. Und vorallen Dingen tun sie nicht genug. Wie kann mensch als Teil des UN- Systems ein paar Tüten mit Essen verteilen, aber keine Intervention machen, dass hier Kinderschutz und Menschenrechte mit Füssen getreten werden. Ich würde gerne viel mehr verstehen über das System des Nichthinsehen wollens, der Untätigkeit von bosnischer Regierung, Europa, der Vereinten Nationen. Es ist 2021 und hier leben Menschen, wie vor 200 Jahren- am Rande der Festung Europa und wir lassen sie dort leben. Wir wissen Bescheid und wir tun nichts. Ja klar, wir sind jetzt mal 4 Wochen hier. Aber das reicht nicht. Das ist nichts. Wir müssen unsere menschenblockierenden Grenzen aufmachen, diesen Menschen ein Zuhause bieten. Ich fühle mich so hilflos. Wo wollen wir enden in 10 Jahren? Wird auch die Grenze zwischen Bosnien und Kroatien so ausgebaut, wie der Grenzzaun zwischen Serbien und Ungarn? Überall Berliner Mauern? Ja, das können wir. Ich werde zynisch. Sollten wir nicht noch mal wieder üben, Mauern einzureißen?

Die Rückfahrt verbringen wir in Gedanken an die Schulgruppe, bei der wir heute morgen wieder waren. Dort bereiteten wir Elektroyte nach WHO Rezept zu.

Die Familien klagten über ihre Lebenssituation, trotz Ofen, vielen Lebensmitteln, einem geschlossenen Dach über dem Kopf. Sie wissen nicht, wie priviligiert sie in diesem kleinen solidarischen Dorf mit ihrer Unterkunft sind. Und trotzdem leiden sie, nicht nur an den Umständen, auch an der eigenen Hilflosigkeit und dem Ausgeliefert sein. Heute waren alle sehr zurückgenommen, noch erschöpft vom PushBack. Ohne Hoffnung.

In ein paar Tagen fahren wir wieder hin. Sie brauchen Medikamente, neue Kleidung.

Warten

Heute gibt es nur drei Dinge zu erzählen:

  1. Vormittags haben wir uns mit der lokalen Soliperson über die Polizeiübergriffe der letzten Nächte ausgetauscht. Diese Übergriffe gibt es nicht erst, seitdem wir in der Region sind. Wir schreiben das deshalb, weil wir uns darüber Gedanken gemacht haben. In Subotica in Serbien bauten andere Gruppen Öfen in 10 kleine verlassene Bahnwärterhäuschen. Kaum waren die Öfen richtig eingeweiht, die Flüchtenden endlich Temperaturen über dem Nullpunkt und nicht mehr minus 10 Grad ausgesetzt, wurden die Häuser von der Polizei geräumt, das Hab und Gut der Menschen verbrannt. „Do no harm“ („Richte keinen Schaden an“) ist als Ansatz immer wieder ein Kriterium für die Bewertung unserer Arbeit. Und auch hier hätte es sein können, dass die (Geheim-) Polizei unsere Anwesenheit wahrnimmt und die Repression sich gegen die Migranten* richtet. Aber das wird von der Soliperson vehement verneint. Es gäbe schon seit langem diese Übergriffe in Buzim.
  2. fahren wir wieder in das nördlich Dorf um Medikamente und Schuhe zu übergeben. Dort nimmt Matthias einen weiteren PushBack Bericht auf, während Katja eine Schwangerenvorsorge (Blutdruck, Gebärmutterstand, Kindslage, Kindsbewegungen, Herztöne) vornimmt. Die Urinkontrolle fällt weg. Ich will gar nicht wissen, wie groß die Eiweißausscheidung bei niedriger Flüssigkeitszufuhr ist, wie hoch der Nitritwert ist bei Kälte in der Nacht und damit verbundener latenter Blasenentzündung… Die Frau aus Afghanistan erhält einen Mutterpass, der ihr evtl. irgendwann mal ein Privileg verschafft.
  3. haben wir einen Zahnarzt gefunden, der einen Migranten behandeln würde. Wir fahren nach Velika Kladusa und warten dort um 16 Uhr zum Zahnarzttermin auf Hassan, um notfalls die Zahnarztrechnung zu begleichen. Aufgrund des Transportverbotes muß Hassan alleine die 35 km bewältigen. Er schafft es um 18.30 Uhr statt um 16 Uhr dort zu sein. Der Zahnarzt will schon lange nach Hause gehen, wartet dann aber doch. Leider klappt die Behandlung nicht, da Hassan eigentlich einen Kieferorthopäden braucht. Aber die Freundlichkeit des arabischsprechenden Arztes, der auch offen für weiterer (kostenfreie?) Behandlungen ist, ist einfach wohltuend, nach den Ereignissen der letzten Nächte.

bosnische Staatsgewalt

(Triggerwarnung: Die nachfolgenden Inhalte beschreiben in Text und Bild Misshandlungen an Menschen. Sie könnten zu emotionalen Belastungen bei Lesenden führen und alte eigene Gewalterfahrungswunden aufreißen)

Nachts um 23 Uhr erreicht uns ein Video von Hassan per Facebook. Er selber filmt seinen mit Plastikfesseln auf dem Rücken gefesselten Freund, der verletzt auf einem Waldboden liegt. Er fleht um Hilfe: „Mama Silver“ in Bezug auf unser Facebook-Account „Silver Bird“. (viele helfende Frauen* werden hier „Mama“ genannt und in ihrer „Mütterlichkeit*“ von Flüchtenden zum Teil stärker wahrgenommen, als männliche Unterstützer*). Zuerst scheint es, als ob die am Boden liegende Person nicht mehr am Leben ist. Große Erleichterung, als sie sich bewegt.

Polizeiübergriff auf Migranten. Nähe Buzim. BiH. 23.5.2021

Zuerst denken wir, dass es sich um Verletzungen durch kroatische Grenztruppen handelt, allerdings liegt der Standort der beiden Misshandelten zwischen Buzim und der Grenze, an einer kleiner Straße im Wald eindeutig auf bosnischen Gebiet. Die Info, die Hassan dazuschreibt ist immer wieder: „Police Buzim“.

Gerade, wo ich das schreibe, steht ein Polizist drei Meter neben mir. Die selbe Einheit, die hier für die Mißhandlungen zuständig ist.

In der Nacht trauen wir uns nicht, in den Wald zu fahren. Es herrscht immer noch Ausgangssperre (wie wir später erfahren, ist sie genau um 0 Uhr in dieser Nacht aufgehoben worden) und es gibt ja das absolute Transportverbot – das wir allerdings für absolute lebensbedrohliche Zustände wahrscheinlich gebrochen hätten ( so wie in Serbien auch schon).

Beide Verletzten schreien danach, dass wir den USA Bescheid sagen, was hier passiert.

Irgendwann sind die Plastikfesseln durchgeschnitten und wir telefonieren mit den beiden im Wald. Sie sind völlig aufgelöst, analysieren die Übergriffe als Rassismus. Aber sie planen schon zu Fuss zum Gesundheitszentrum nach Buzim zu gehen. Das heißt, sie sind irgendwie handlungsfähig. Wir verabreden, dass wir um 9 Uhr in ihr „Haus“ kommen um zu reden und zu schauen, was wir medizinisch noch tun können. Immer wieder wiederholen wir diesen Satz in dem 12-minütigen Telefonat: „Yes, we will meet. And now you walk to the hospital.“ Es wirkt wie ein Mantra, ein Anker in dieser Ausnahmesituation. Irgendwann können wir das Telefonat beenden.

Später erfahren wir von der lokalen Soliperson, dass sie mit ihrem Mann in den Wald gefahren ist und die beiden ins Krankenhaus gebracht hat. Danach war sie auf der Polizeiwache und hat sich noch in der Nacht über das Verhalten der Polizei beschwert:

Sie schreibt:

„Aber die Polizei schützt sich gegenseitig. Es gibt keine Gerechtigkeit. Ich möchte dass diese Polizisten morgen ihre Arbeit verlieren und meine Kinder (Migranten) nicht von solchen Monstern geschlagen werden.

(am Tag später im Kontakt mit einem anderen Migranten)

„Sie haben das gleiche mit einem anderen Migranten gemacht. Sie tun es immer noch. Genug! Jemand muß reden. Sie nahmen ihm sein Telefon ab. Zuher called me. They take him again somewhere. He was scared and he cried. I went to the police and begged them. I cried to call the patrol to bring him back. They didn`t listen to me and beat him again. This is horrible. They lied to me that they called the patrol and that no one whold beat him. They protect each other. What should we do?“

Erneute Übergriffe, Buzim, BiH, 24.5.2021

Um 9 Uhr schlafen noch alle Bewohner in dem Haus und wir schreiben per Facebook, dass wir abends wieder kommen.

Wir fahren wieder zum Haus nahe der kroatischen Grenze (siehe Blog von gestern). Ich treffe 11 Personen aus Afghanistan, die in der Nacht zuvor gepushbackt wurden. Unter ihnen ist ein ehemaliger Dolmetscher, der zwei Jahre für die Bundeswehr in Kundus und Mazar El Sharif gearbeitet hat und zwei Jahre für die Nato. Aufgrund seiner Arbeit wurden sieben enge Familienangehörige getötet, es gab vier Angriffe auf sein Haus. Dann entschied sich die Familie zu gehen. Mutter und zwei Geschwister sind schon in Deutschland. Er hängt mit seiner 15-jährigen Schwester in Bosnien fest. Beide möchten gerne den letzten Push Back aus Sicht der Schwester dokumentieren und so hocken wir uns in einen kleinen halboffenen Stall. Es brennt ein klitzekleines Feuerchen, dass an diesem kühlen Tag nicht genug Wärme bringt. Wir hocken auf Ziegelsteinen, ich maskiert, in direkter Körpernähe zu den erzählenden Menschen. (Das ich mich irgendwie gefährden könnte, ist mir klar und ich gehe das blöde Corona-Risiko bewußt sein. Es ist eine Wertabwägung).

Wir rufen die PuschBackMap auf meinem Laptop auf. Dort die Seite auf Urdu. Die super geschriebenen Infos werden laut vorgelesen. Es scheint, die Gruppe versteht die Intention der öffentlichen Erfassung von Push Backs. Wir fangen an, gemeinsam den Fragebogen auszufüllen. In den Freitextfeldern werden mir folgende Inhalte diktiert:

„The male officer were laughing. They shot with electric device at the neck. They burned our clothes. Even a family did not get water for a Baby. They shot real bullets at the side of us when wie tried to pick up our raincoat from the ground. It was dark all the same. They cut a diaper of a baby to search for mobile phone.

3 commandos from Border Police/Military???? with covered face mask in grey, only eyes were seen. They wore green pants and jackets and a woolen black hat. 6 policemen including one female policewoman were wearing black uniforms with „Policija“. One Lady was very brutal. She was about 45 years. She had no mercy, she is brutal. She is very strong, very tall (185 cm) even the women she hit. The 2 year old she liftet up high in the air to tear her diapers. All of us were very scared of this woman. We are immigrants not criminals.

I am 15 years old, girl, from Afganistan. My mother is in Germany since one year. She is in hospital. I miss her a lot. Also my brother and sister are in Germany. I can not live without my mother. I have no one in Afghanistan. Just me and my brother who is together with me on this journey. He worked for german military as well as Nato-Alliance in Mazar El Sharif, Kunduz, Kabul. Because we lost 7 closest members of our family, including our father. My father was an active employer of Afghanistan Government. He was killed by unkown people at the same time. We were attacked 4 times in our house but they failed. We had no other option then to flee from Afghanistan. It has been a year that I have been seperated from my mother. My only crime is that I want to join my family. Now I face military forces who don`t want me to meet my mother.

Abends gelingt es uns endlich Hassan zu treffen. Er berichtet noch einmal ganz genau von dem Übergriff und klärt für uns endgültig die Frage, welches Land hier gewalttätige Übergriffe auf schutzbedürftige Menschen ausübt. Es ist doch nicht nur die kroatische Grenzpolizei. Staatliche Gewalt ist einem Nationalstaatensystem inhärent – es ist untrennbar verbunden. No Nation – No Border!!!

Wir müssen heute zusammen mit der bosnischen Soli-Familie analysieren, ob unser Hiersein damit zu tun haben könnte und was gegen eine Fortführung der bosnischen Polizeigewalt unternommen werden kann.

Die Fragmente der Pushbackgeschichte aus Slowenien von Mohssin lassen uns keine Ruhe. Schon 2017 haben wir einen kleines Dokument der illegalen Deportationen an der serbisch-ungarischen Grenze fotografieren können. Gestern fahren wir noch einmal zu dem Haus nahe der kroatischen Grenze. Der Plan ist, Mohssin zu bitten, seine Geschichte aufzuschreiben. Er möchte seine Geschichte gerne aufschreiben. Aber Soffian ist an diesem Tag schneller. Er füllt den Fragebogen von pushbackmap.org aus. Er macht es in Arabisch. Immer wieder reibt er sich die Augen – bevor er die Tränen wegwischen müsste. Wir wissen nicht genau, was er schreibt, aber es muss für ihn wichtig sein. Und während es auf der einen Seite super ist, dass die Flüchtenden hier selbstständig ihre Geschichten aufschreiben können, so merken wir auf der anderen Seite, dass eine Teilhabe, Begleitung oder Nachfrage durch uns über diese verschriftliche Form schwer möglich ist. Mohssin hat den Fragebogen heute ausgefüllt. Ein dritter Flüchtender möchte auch. Er könnte es jetzt selbstständig tun. Aber er hat gewartet bis Mohssin fertig ist und möchte es in meiner Anwesenheit tun. Obwohl ich die meiste Zeit „nur“ dabeisitzen werde. Aber wahrscheinlich ist es das. Teilhabe, nicht alleine lassen, anerkennen. Heute haben Katja und ich aber keine Zeit mehr – wir müssen weg. Morgen wird der dritte Bericht geschrieben. Und es fühlt sich wie ein gutes Ritual an: jeden Tag ein persönlicher Bericht – bis alle, die möchten, ihre Berichte geschrieben haben. Der dritte Flüchtende gibt mir das Gefühl, dass auch er dieses Ritual erkennt und weiß, dass es morgen seine Geschichte ist, die es wert ist, erzählt und gehört (bzw. geschrieben und gelesen) zu werden.

[Wir wundern uns, dass pushbackmap.org den selbstermächtigenden Fragebogen zur Verfügung stellt, die letzten Einträge aber von Mitte 2020 sind, während es beim Border Violence Monitoring Network zwar aktuelle Berichte, aber nicht den selbstermächtigenden Fragebogen gibt. Und das, obwohl eine Vielzahl der beteiligten Gruppen identisch sind. In den nächsten Tagen werden wir dazu Klarheit haben.]

In den Schützengräben der Vergangenheit

Heute sind wir mit dem Mann unserer bosnischen Soliperson aus Buzim und unserer super Übersetzerin Hazana zu einem bosnischen Denkmal in der Wildnis an der östlichen Grenze von Bosnien zu Kroatien gefahren.

Spomenik im Nirgendwo von Una-Sana

Die Spomeniks sind ungewöhnliche Gebilde, ursprünglich um den kämpfenden Partisanen unter Tito während des 2. Weltkrieges unter anderem gegen die deutsche Wehrmacht zu gedenken, gibt es sie mittlerweile auch als (Kriegs-)Denkmal für die Bürgerkriege in Jugoslawien. (zu dieser ganz besonderen Form der Erinnerungskultur gibt es unter http://peopleandspomeniks.com/?p=30 einen spannenden Artikel.)

Es ist ein besonderes Gefühl mit jemandem hier oben zu sein, der genau an dieser Stelle gekämpft und auf Serben geschossen hat. Und das gerademal vor gut 30 Jahren. Viele seiner Freunde sind hier umgekommen. Es ist ein Weg in die Vergangenheit und in den Verlust und doch ist da eine Heiterkeit. Nein, die Serben seien nicht mehr die Feinde. Es wäre zur Aussöhnung gekommen. Das ganze sei sehr lange her. Hazana ist skeptisch, wie kann es sein, dass Feinde Freunde werden? Sie ist im Englischen so fit, dass ich ihr die Idee der „Reconciliation/ Versöhnung“ erkläre.

Später erklärt sie offen, sie würde sich manchmal nicht sicher mit Fremden fühlen. Und wir wären ja Fremde – eigentlich. Auch da stößt sie was an, will etwas von mir und ich steige ein. An diesem Ort, wo ihr Vater wahrscheinlich Männer getötet hat, sie sich unsicher fühlt, erkläre ich ein ganz wenig von der Idee des Transgenerationalen Traumas, dass es Dinge gibt, die nicht uns passiert sind, sondern unseren Eltern und Großeltern und die wir trotzdem noch ein wenig in uns tragen. Ich habe das Gefühl, plötzlich fügt sich was in ihrem Innern zusammen, sie atmet ein wenig freier, sucht noch mehr meine Nähe. Sie ist schon so weise und dabei noch so klein. Aber sie hat eine Geschichte, eine jugoslawische, bosnische, muslimische Geschichte. Und sie hört viele Geschichten der Migrants.

Der Blick von hier oben ist wunderbar. Er geht weit über die Hügel bis fast nach Bihac, weiter im Norden über Kroatien. Wären da nicht die Warnschilder, die vor ungesprengten Minen im Gelände warnen.

Auf der Rückfahrt gehen die intensiven Gespräche mit Hazana weiter. Über Allah, Gott, den Quran, die Bibel, über Gastarbeiter und Streiks, über Tierhaltung und Vegetarismus…. Ein Streifzug mit einer 10-jährigen durch die ganze Welt, in einem kleinen verräucherten Auto auf eine Sandpiste im Nirgendwo von Bosnien.

Auf der Couch beim Mittagessen mit der Familie schlafe ich fast ein. Habe ich richtige Antworten gegeben? Habe ich Hazana überfordert? Wie sieht es mit ihrem Recht auf Kindheit bei Dolmetscherdiensten aus? (Dazu habe ich extra mal für meine Familienhebammentätigkeit mit migrantischen Familien eine Fortbildung beim Netzwerk für traumatisierte Flüchtlinge in Niedersachsen gemacht….) Habe ich /haben wir diesen Schutz gebrochen?

Wir sehen die Familie sicherlich bald wieder, dann können wir da noch mal nachhaken.

Der Nachmittag vergeht schnell: Eine kleine 3-er Gruppe wandert nach Norden. Sie klagen über Knieschmerzen durch Schläge von der Polizei. Wir können gegen die Prellung wenig machen, stattdessen gibt es Masken, Desinfektionstücher für die Hände, Schokolade und Kekse für den Grenzübertritt heute Nacht.

Eine zweite größere Gruppe braucht Versorgung für eine Wunde auf einer Hand und Mundspülung für einen eitrigen Zahn.

Den Abend verbringen wir mit Buchung unserer Ausgaben und Vorbereitungen für den nächsten Tag.

Die slowenischen Grenzer können auch,

es sind nicht nur die kroatischen Grenzer, die ein inhumanes Grenzregime aufrechterhalten.

Gestern sind wir nach Buzim umgezogen. Man hat uns dort den Kontakt zu zwei unabhängig von einander arbeitenden lokalen Solipersonen hergestellt. In dieser Region gibt es keine offiziellen Camps und keine ausländischen NROs. Überhaupt ist die Region für viele People on the Move nur eine Durchgangsregion Richtung Velika Kladusa. Andererseits gibt es dort mindestens einen „prominenten“ Push-Back-Point. [Wir haben am 19.5. von Menschen berichtet, die genau dort gepushbackt wurden. Einen Tag später, als wir Schuhe und Kleidung zu den Familien in der Schule gebracht haben, kamen uns mehrere größere Gruppen entgegen, die gerade frisch aus Kroatien deportiert wurden.)

Und es gibt mehrere, kleine Squats in und um Buzim herum, in denen Menschen auf der Durchreise leben. Von ihnen kennen wir bisher aber nur einen. Offensiv im Ort danach fragen, trauen wir uns noch nicht. Dafür haben wir noch zuviel Respekt vor den Erzählungen anderer bzgl. Polizei, Abschiebung, Betätigungsverbot. Wie also bekommen wir „einen Fuß in die Tür“?

Erster Schritt: wir haben uns einen Drecks-Facebook-Account angelegt. Auf unserem Aktions-Smartphone. In Serbien wurde 2017 über WhatsApp kommuniziert, hier in Bosnien halt über Facebook.

Zweiter Schritt: Wir haben beim uns „bekannten“ Squat an die Haustüre geklopft und der ersten Person on the Move unsere Unterstützung angeboten und unseren Facebook-Account geteilt. Aktuelle Probleme (bei denen wir hätten unterstützen können) gab es in diesem Moment dort nicht.

Dritter Schritt: Wir sind zur Schule gefahren, von der wir wussten, dass die dort unterstützten Familien nun weg sein müssten. Wir wollten dort aufräumen. Aber: wir trafen dort den Hausmeister, der die sehr sauber hinterlassene Unterkunft gerade inspiziert und unsere Hilfe dankend abgelehnt hat. Einheimische Solidarität. Wir haben für die Zukunft unsere Unterstützung angeboten und sind gefahren.

Vierter Schritt: Parken und Warten auf der Straße, auf der unserer Wahrnehmung nach gepushbackte Menschen den Weg zur Infrastruktur nach Velika Kladusa suchen.

Warten. … Sind wir hier richtig? Auf dieser Straße? In dieser Region? … Warten. …

Dann endlich eine Nachricht von Alma (Rahma) aus Velika Kladusa: Eine Person on the Move ist von einer NRO medizinisch versorgt worden, ist sich aber unsicher, wie es weitergeht. Ob wir dort nachsehen und helfen könnten? Wir freuen uns, von ihr gefragt zu werden, obwohl ist nicht zu unserem örtlichen Arbeitsregion gehört und sagen zu.

Kaum sind wir losgefahren, kommt die erste Facebook-Nachricht aus dem Haus in Buzim. Hassan besitzt seit dem letzten Push-Back kein Smartphone mehr. Ob wir eines beschaffen könnten. Wir sagen zu.

[Smartphone: bei uns ein Statussymbol oder die technische Lösung, um lästigen, direkten Kontakten aus dem Weg zu gehen und manchmal nützliches Werkzeug. Für People on the Move ist es DAS Kommunikationsmittel zu ihren Familien, ihrer Reisegruppe oder Unterstützungsstrukturen. Es ist der Aktenordner für ihre Dokumente (die irgendwo in einer Cloud liegen) und der Kompass für ihre räumliche Orientierung.]

Am Abend treffen wir Hassan und übergeben ihm ein gebrauchtes Smartphone inkl. Powerbank. (Der Verkäufer im Laden erwähnte, dass die Migrants immer diese Powerbank kaufen würden.) Er ist sehr glücklich und bedankt sich. Auch später noch wiederholt via Facebook. In zwei Tagen startet er wieder Richtung Kroatien. …

Doch vorher waren wir noch bei Mohssin. Die Wege sind weit. Zumal die medizinische Anfrage für eine Region gestellt wurde, in der wir eigentlich nicht aktiv sein wollten. Unser erstes Ziel sind zwei Häuser sehr nahe der Grenze. In einem Haus treffen wir ihn und ein halbes Dutzend weitere People on the Move. Wir werden herzlich begrüßt und zum gerade stattfindenden Essen eingeladen – was wir ablehnen, weil das Essen kaum für die Anwesenden reicht. Wir können ihn beruhigen: seine Verletzung sieht gut aus. Und auch die Versorgung der Verletzung sieht gut aus.

Überraschend an diesen Tag für uns: wir haben viel Französisch gesprochen.

Beeindruckend an diesen Tag für uns: alle vier Squats, die wir bisher gesehen haben waren aufgeräumt, gefegt und sauber. In einer Art, wie wir es in Serbien nie gesehen haben. Und obwohl alle People on the Move schon mehrere Push-Backs, z.T. bis zu 27 am eigenen Körper erlebt haben, begegnet uns stets eine Aura der Zuversicht.

Als wir das zweite, sauber aufgeräumte Haus gezeigt bekommen, erzählt Mohssin kurz von seinem letzten Pushback: es war an der slowenisch-kroatischen Grenze. Vor ihm slowenische Grenzer, hinter ihm kroatische Grenzer. Die slowenischen Grenzer haben ihn nicht durchgelassen. Die kroatischen Grenzer haben ihn deportiert.

Mir kann keiner erzählen, dass die slowenischen Grenzer nicht wussten, was sie dort tun. Haben halt nur den Schengen-Raum bewacht. Wenn die kroatischen Grenzer schon nicht die EU-Außengrenze schützen können.

Während ich den Blog-Beitrag schreibe, kämpft sich Katja durch Facebook und die ersten neuen Anfragen.

Vielleicht haben wir einen Fuß in der Tür.

Warum musstet ihr flüchten?

Diese Fragen stellen manchmal solidarische Menschen an diejenigen, die sich auf den langen Weg nach Europa in eine bessere Zukunft machen. Gestern ist auch uns diese Frage gestellt worden. Und das kam so:

Am Morgen haben wir uns mit Alma von der Nichtregierungsorganisation (NRO) Rahma getroffen. Sie hat eine bosnische Soli-Gruppe gegründet, die mit vielem hilft, was hier gebraucht wird. Sie ist gut vernetzt mit anderen NROs und Soli-Personen und bringt uns in Kontakt mit einer bosnischen Frau aus Buzim (sie wird von den Flüchtenden hier „Mama“ genannt. Wir veröffentlichen ihren Namen an dieser Stelle nicht). Sie spricht ein wenig englisch und lädt uns zusammen mit ihrem Mann zu ihrer Familie nach Hause ein. Dort erwartet uns eine redegewandte 10-Jährige, die im wunderbarsten englisch (durchs fernsehen gelernt) anfängt mit uns zu plaudern.Wir erzählen ihr, dass wir aus Deutschland kommen und was wir zuhause so tun. Dann traut sie sich zu fragen: „Warum mußtet ihr flüchten?“

Ihr Erfahrungsschatz mit People on the move ist sehr hoch. Regelmässig kommt jemand zum Duschen zur Familie. Sie scheint viele Gespräche mit diesen Menschen aus aller Welt zu führen und diesmal dachte sie halt, jetzt seien mal Flüchtlinge aus Deutschland gekommen. Vielleicht (und hoffentlich?) wird diese Frage zum ersten und letzen Mal an uns gerichtet, aber sie zeigt, wie schnell jede*r von uns zum Flüchtling werden kann.

Nachmittags treffen wir uns mit einer anderen bosnischen Soliperson, dessen Name auch hier ungenannt bleiben wird. Er organisiert eine Übersetzerin für uns und wir fahren mit zwei PKW von Buzim Richtung Nord-Osten. In einem verlassenen kommunalen Gebäude sind 2 Familien untergekommen. Sie zelten in einen Klassenzimmer, ein alter Bollerofen bringt gut Wärme. Aber draußen stehen sie mit T-shirt und Badelatschen in der recht frischen kühlen Luft. Die bosnische Organisation unseres Guides an diesem Tag, bringt täglich Lebensmittel zu den verschiedenen „Squats“, aber hat keine finanziellen Möglichkeiten für NFI (Non-Food-Items: alles außer Lebensmittel). Wir hören uns die gesundheitlichen Sorgen an und versprechen, am nächsten Tag mit Medikamenten wiederzukommen. Es sind die Rückenschmerzen (häufig bei den männlichen* Reisenden), auf deren Schulter nicht nur der schwere Rucksack, sondern auch die Last für die ganze Familie lastet (nach ihrem eigenen Empfinden) (natürlich tragen auch die Frauen* eine große Last, aber hier manifestieren sich die Beschwerden eher im Unterleib). (Verallgemeinerungen sind blöde, und doch lassen sich irgendwie Beobachtungen aus Erfahrungen mit angekommenen Menschen in Deutschland mit hinzuziehen).

Morgen wollen sie wieder einen erneuten Versuch zur Grenzquerung nach Kroatien wagen. Sie brauchen 10 Paar feste Schuhe, vier Sweatshirts, Strümpfe, zwei Schlafsäcke und einen großen Rucksack.

Auf unserer Rückfahrt treffen wir eine alleinreisende Mutter mit zwei Kinder. Ihr wurde alles Geld und das Handy weggenommen. Da die Orientierung nur über eine App auf dem Handy läuft, ist sie eigentlich völlig aufgeschmissen. Wir bieten ihr Essen aus dem Kofferraum an, aber sie lehnt ab. Wir dürfen sie nicht im Auto mitnehmen, es könnte unserer sofortige Ausreise zur Folge haben und ist vielleicht sogar eine Straftat???? Es fühlt sich beschissen an, dass wir uns den staatlichen Vorgaben beugen. Wir geben ihr 20€ und wünschen ihr alles Gute. Die drei ziehen weiter.

Eine andere Gruppe aus 11 Personen lagert ein Stück weiter am Straßenrand. Die Gesichter sind regungslos. Ein 2-jähriges Kind summt immer die selbe Melodie vor sich in. Die Frauen klagen über Atemnot und Übelkeit. Die Männer seien geschlagen worden von der kroatischen Polizei vor der Rückschiebung (Push-Back). Es ist sehr still. Wir holen Bananen und Äpfel aus dem Kofferraum. Es fehlt die Energie, sie zu essen. Wir setzen uns zu ihnen. Es ist nicht die richtige Zeit zum reden. Einfach da sein. Den Kummer, die Verzweifelung spüren. Nichts gut machen wollen, weil nichts da ist zum gut machen. So viel Hilflosigkeit und Ohnmacht. Da sitzen 7 Erwachsene im Dreck am Rande der Straße, sechs Kinder liegen daneben und alles 1300 km von Meußließen, 1345 km von Gedelitz entfernt (wie weit ist Mallorca entfernt?- ich werde zynisch- gerade nachgeguckt: 2100km). Vor unserer Haustür halten wir Zentraleuropäer Menschen davon ab, eine Heimat zu finden, wir jagen sie durch Wälder (mit Hilfe von privaten Sicherheitsdiensten und Frontex) und dass alles auf europäische Weisung und finanziert durch jeden von uns.

Den Rest des Abends sind wir beschäftigt, die NFI-Sachen zu kaufen und eine Apotheke zu finden, in der wir die Medikamente bekommen (was uns auch gelingt und wo wir extrem freundlich behandelt werden und offen über unsere Arbeit reden können- Danke an eine NRO (auch ungenannt), die uns diese Apotheke empfohlen hat).

Spät abends fällt unser Abendessen aus. Stattdessen gibt es Chips aus der Tüte. Auch lecker.