Als Flüchtlingshelfer in Bosnien: Menschen „wie eingefroren“

Katja Tempel und Matthias Wiedenlübbert waren vier Wochen an der bosnisch-kroatischen Grenze, um flüchtende Menschen unter anderem mit Essen, Schuhen und Erster Hilfe zu versorgen.
28.06.2021 – VON CHRISTIANE BEYER

Lüchow. Zum dritten Mal waren Katja Tempel aus Meußließen und Matthias Wiedenlübbert aus Gedelitz dort, wo es weh tut. Diesmal in Bosnien, an der Grenze zu Kroatien, auf einer der Fluchtrouten in die Europäische Union. Vier Wochen halfen die Hebamme und der Krankenpfleger auf eigene Faust in der Grenzregion Menschen, deren nächstens Ziel Kroatien ist. Menschen, die von bosnischen wie von kroatischen Grenzern im wahrsten Sinne des Wortes gewaltsam zurückgewiesen werden und in Verhältnissen leben, die „absolut unzumutbar und in Deutschland unvorstellbar sind“, berichten sie. „Die Menschen vegetieren in der Landschaft, irren mit ihren Kindern auf den Straßen in Nordbosnien herum“, so Matthias Wiedenlübbert. Unterschlupf finden sie auf Industriebrachen, in wilden Zeltsiedlungen. Von einer „unsäglichen Situation“ spricht Katja Tempel. Sie wolle sie nicht nur vom Sofa aus vorm Fernseher beklagen, sondern sich ihr auch bewusst aussetzen. Gegen die eigene Hilflosigkeit helfe es, zu handeln und die Flüchtenden zu unterstützen – sei es durch neue Schuhe, Babytragen, Lebensmittel oder indem man deren Wunden versorge.

Medizinisches Equipment im Auto
In den Vorjahren waren die beiden an der griechisch-mazedonischen und an der serbisch-ungarischen Grenze und auch diesmal ging es in eine Gegend, von der sie wussten, dass es dort wenig Unterstützungsstrukturen gibt. Dabei war ihnen bewusst, dass es aus bosnischer Sicht nicht korrekt war, was sie taten. Das Land lasse zivile Aktivist/innen nicht zu, schon gar nicht solche aus dem Ausland. So tarnten sie sich als Touristen, mieteten sich in einem Hotel ein. Im Auto hatten sie medizinisches Equipment, aber auch „einiges an Geld“, gespendet von Unterstützer/innen, um damit dann vor Ort kaufen zu können, was im Einzelfall nötig war. Basis dafür ist der von ihnen gegründeten Verein „Grenzenlos – People in Motion“.

Auf ihren vermeintlich touristischen Erkundungstouren war es nicht schwer, auf die gestrandeten Menschen zu treffen, „sie sind überall“. Besonders in der Nähe der sogenannten Pushback-Punkte, der Stellen, an denen die Flüchtenden zurück nach Bosnien abgeschoben werden. Die Zurückgewiesenen waren, so berichten Tempel und Wiedenlübbert, „wie eingefroren“, erschöpft, kraftlos, misshandelt, gekennzeichnet von Schlagwunden der Grenzer, viele auch traumatisiert. Die beiden aus Lüchow-Dannenberg überreichten Wasser, Bananen, Schokolade und hielten Kontakt, um sie am nächsten Tag, zu einem bestimmten Termin, gegebenenfalls mit neuen Schuhen, T-Shirts, weiterem Essen zu versorgen. Die Nachfrage nach Smartphones – die vor allem als Navigationsgeräte genutzt werden – und auch Powerbanks zum Aufladen konnten sie nur zum Teil stillen. Oft würden die Grenzer die Smartphones „bewusst zerstören und die Powerbanks einsacken“. Vor ihrem nächsten Einsatz wollen die beiden gezielt gebrauchte Geräte sammeln. Die Übergriffigkeit staatlicher Organe auf der einen und die fehlenden rechtsstaatlichen Strukturen auf der anderen Seite sei ein großes Problem.

„Brauche Tage, an denen ich weinen darf“
„Die Menschen sind in Bewegung und wollen in Bewegung sein, diese Situation müssen wir anerkennen“, meint Katja Tempel. Ihr geht sehr nahe, wie das saturierte Europa Menschen behandele, die ein sicheres und besseres Leben für sich wollen, als es ihnen ihr Herkunftsland bieten kann. Gut schlafen konnte sich in den vergangenen vier Wochen nicht immer: „Ich brauche Tage, wo ich weinen darf, wütend sein darf über die Situation.“ Etwa darüber, das Grenzen für Waren und Waffen durchlässig sind, für Menschen aber nicht. „Dass wir all das akzeptieren in unserer Sattheit und keine sicheren Passagen bieten, aber Lager in Griechenland und der Türkei finanzieren“ – Tempel und Wiedenlübbert können es nicht begreifen. Sich als Gesellschaft andere Menschen vom Leibe zu halten, sei schlicht unmenschlich.

Die Afghanen, Pakistaner, Nordafrikaner und andere, um die sie sich kümmerten, waren zum Teil schon seit fünf Jahren unterwegs. Darunter war auch einer, der in Afghanistan für die Bundeswehrsoldaten gedolmetscht habe. Die Taliban hätten viele seiner Familienangehörigen umgebracht, andere seien schon in Deutschland, „er sitzt jetzt in Bosnien fest“, berichten die beiden. Der Wunsch Katja Tempels und Matthias Wiedenlübberts ist es, dass die Zivilgesellschaft mehr Druck auf den Staat und sein Handeln macht. Dass sich Niedersachsens Innenminister Boris Pistorius (SPD) mit der Aufnahme von „15 Jugendlichen aus Lesbos brüstet, ist schlicht lächerlich und würdelos“. Erstaunt waren sie darüber, dass die Flüchtenden immer wieder Kraft für den nächsten Versuch finden, die Grenze zu überwinden – und zurück ins „Game“ gehen – wie sie es nennen. Doch ein Spiel sei das nicht.

Katja Tempel und Matthias Wiedenlübbert werden auf zwei Erzählabenden von ihrem Einsatz berichten: am Sonntag, dem 4. Juli, um 19.30 Uhr im Gasthaus Wiese in Gedelitz und am Montag, dem 5. Juli, ab 19.30 Uhr im Culturladen in Clenze. Auf der Internet-Seite ihres Vereins schildern sie in einem Blog ihre Erfahrungen: www.grenzenlos-people-in-motion.eu by