Die PushBackMap ( https://pushbackmap.org/ ) ist ein selbstermächtigendes Instrument, mit dem People on the Move ihre Grenzerfahrungen im mehrdeutigen Sinne der Öffentlichkeit zugänglich machen können. Leider kennen aber viele PoM diese Seite nicht. Deswegen reisen Julia und Uschi Anfang März nach Bosnien. Sie werden mit dort aktiven Gruppen Gespräche suchen, um Wege für die Verbreitung des Wissens über die PushBackMap zu erarbeiten.
Über ihre Erfahrungen werden Julia, Lenie und Uschi hier regelmäßig berichten.
Katja Tempel und Matthias Wiedenlübbert waren vier Wochen an der bosnisch-kroatischen Grenze, um flüchtende Menschen unter anderem mit Essen, Schuhen und Erster Hilfe zu versorgen. 28.06.2021 – VON CHRISTIANE BEYER
Lüchow. Zum dritten Mal waren Katja Tempel aus Meußließen und Matthias Wiedenlübbert aus Gedelitz dort, wo es weh tut. Diesmal in Bosnien, an der Grenze zu Kroatien, auf einer der Fluchtrouten in die Europäische Union. Vier Wochen halfen die Hebamme und der Krankenpfleger auf eigene Faust in der Grenzregion Menschen, deren nächstens Ziel Kroatien ist. Menschen, die von bosnischen wie von kroatischen Grenzern im wahrsten Sinne des Wortes gewaltsam zurückgewiesen werden und in Verhältnissen leben, die „absolut unzumutbar und in Deutschland unvorstellbar sind“, berichten sie. „Die Menschen vegetieren in der Landschaft, irren mit ihren Kindern auf den Straßen in Nordbosnien herum“, so Matthias Wiedenlübbert. Unterschlupf finden sie auf Industriebrachen, in wilden Zeltsiedlungen. Von einer „unsäglichen Situation“ spricht Katja Tempel. Sie wolle sie nicht nur vom Sofa aus vorm Fernseher beklagen, sondern sich ihr auch bewusst aussetzen. Gegen die eigene Hilflosigkeit helfe es, zu handeln und die Flüchtenden zu unterstützen – sei es durch neue Schuhe, Babytragen, Lebensmittel oder indem man deren Wunden versorge.
Medizinisches Equipment im Auto In den Vorjahren waren die beiden an der griechisch-mazedonischen und an der serbisch-ungarischen Grenze und auch diesmal ging es in eine Gegend, von der sie wussten, dass es dort wenig Unterstützungsstrukturen gibt. Dabei war ihnen bewusst, dass es aus bosnischer Sicht nicht korrekt war, was sie taten. Das Land lasse zivile Aktivist/innen nicht zu, schon gar nicht solche aus dem Ausland. So tarnten sie sich als Touristen, mieteten sich in einem Hotel ein. Im Auto hatten sie medizinisches Equipment, aber auch „einiges an Geld“, gespendet von Unterstützer/innen, um damit dann vor Ort kaufen zu können, was im Einzelfall nötig war. Basis dafür ist der von ihnen gegründeten Verein „Grenzenlos – People in Motion“.
Auf ihren vermeintlich touristischen Erkundungstouren war es nicht schwer, auf die gestrandeten Menschen zu treffen, „sie sind überall“. Besonders in der Nähe der sogenannten Pushback-Punkte, der Stellen, an denen die Flüchtenden zurück nach Bosnien abgeschoben werden. Die Zurückgewiesenen waren, so berichten Tempel und Wiedenlübbert, „wie eingefroren“, erschöpft, kraftlos, misshandelt, gekennzeichnet von Schlagwunden der Grenzer, viele auch traumatisiert. Die beiden aus Lüchow-Dannenberg überreichten Wasser, Bananen, Schokolade und hielten Kontakt, um sie am nächsten Tag, zu einem bestimmten Termin, gegebenenfalls mit neuen Schuhen, T-Shirts, weiterem Essen zu versorgen. Die Nachfrage nach Smartphones – die vor allem als Navigationsgeräte genutzt werden – und auch Powerbanks zum Aufladen konnten sie nur zum Teil stillen. Oft würden die Grenzer die Smartphones „bewusst zerstören und die Powerbanks einsacken“. Vor ihrem nächsten Einsatz wollen die beiden gezielt gebrauchte Geräte sammeln. Die Übergriffigkeit staatlicher Organe auf der einen und die fehlenden rechtsstaatlichen Strukturen auf der anderen Seite sei ein großes Problem.
„Brauche Tage, an denen ich weinen darf“ „Die Menschen sind in Bewegung und wollen in Bewegung sein, diese Situation müssen wir anerkennen“, meint Katja Tempel. Ihr geht sehr nahe, wie das saturierte Europa Menschen behandele, die ein sicheres und besseres Leben für sich wollen, als es ihnen ihr Herkunftsland bieten kann. Gut schlafen konnte sich in den vergangenen vier Wochen nicht immer: „Ich brauche Tage, wo ich weinen darf, wütend sein darf über die Situation.“ Etwa darüber, das Grenzen für Waren und Waffen durchlässig sind, für Menschen aber nicht. „Dass wir all das akzeptieren in unserer Sattheit und keine sicheren Passagen bieten, aber Lager in Griechenland und der Türkei finanzieren“ – Tempel und Wiedenlübbert können es nicht begreifen. Sich als Gesellschaft andere Menschen vom Leibe zu halten, sei schlicht unmenschlich.
Die Afghanen, Pakistaner, Nordafrikaner und andere, um die sie sich kümmerten, waren zum Teil schon seit fünf Jahren unterwegs. Darunter war auch einer, der in Afghanistan für die Bundeswehrsoldaten gedolmetscht habe. Die Taliban hätten viele seiner Familienangehörigen umgebracht, andere seien schon in Deutschland, „er sitzt jetzt in Bosnien fest“, berichten die beiden. Der Wunsch Katja Tempels und Matthias Wiedenlübberts ist es, dass die Zivilgesellschaft mehr Druck auf den Staat und sein Handeln macht. Dass sich Niedersachsens Innenminister Boris Pistorius (SPD) mit der Aufnahme von „15 Jugendlichen aus Lesbos brüstet, ist schlicht lächerlich und würdelos“. Erstaunt waren sie darüber, dass die Flüchtenden immer wieder Kraft für den nächsten Versuch finden, die Grenze zu überwinden – und zurück ins „Game“ gehen – wie sie es nennen. Doch ein Spiel sei das nicht.
Katja Tempel und Matthias Wiedenlübbert werden auf zwei Erzählabenden von ihrem Einsatz berichten: am Sonntag, dem 4. Juli, um 19.30 Uhr im Gasthaus Wiese in Gedelitz und am Montag, dem 5. Juli, ab 19.30 Uhr im Culturladen in Clenze. Auf der Internet-Seite ihres Vereins schildern sie in einem Blog ihre Erfahrungen: www.grenzenlos-people-in-motion.eu by
Wir treffen heute noch einmal kurz einen Vater aus dem Haus mit den drei Familien. Er hatte uns das Foto eines Schreibens geschickt, mit der Bitte, es ihm auszudrucken. Er erzählt uns erfreut eine unglaubliche Geschichte.
Ein Kind einer der beiden anderen Familien hatte einen Unfall. Wir verstehen nicht ganz, ob es ein Autounfall oder ein anderer Unfall war. Egal. Klar ist nur, der Junge hatte ein ganz große, offene Wunde am Oberarm. Sein Vater war bei ihm. Dann auch die Polizei. Der Polizist war wohl auch entsetzt, ob der Wunde und ruft den Krankenwagen. Der Krankenwagen kommt und nimmt den Jungen, samt Vater auf. Zusätzlich eine Mutter plus drei Kinder. Alle sechs rasen Richtung Krankenhaus – nach Kroatien. Dort stellt die Mutter mit ihren drei Kindern einen Asylantrag – das entsprechende Papier sehen wir als Foto. Der Vater mit dem verletzten Kind wird wohl auch einen Asylantrag gestellt haben.
Warum erzählt uns der Vater vor Ort diese Geschichte so begeistert?
Es war seine Frau mit seinen Kindern, die zu dem anderen Vater mit dessenverletzten Sohn in den Krankenwagen gestiegen sind. Die Ambulanzfahrer*innen haben wahrscheinlich nur gezählt: ein Mann, eine Frau, vier Kinder. Passt, eine Familie.
Der Vater (mit dem verletzten Kind) in Kroatien ist derjenige, den ich in einem vorherigen Blog dahingehend beschrieben hatte, dass er mit einem Teil der Kinder alleine loswolle, um seine Frau und die restlichen Kinder anschließend nachzuholen. Anders als wohl geplant, hat er es nun geschafft.
Der Vater vor Ort ist glücklich, dass es seine Familie geschafft hat. Und er bekommt von uns den Ausdruck des Asylersuchens seiner Frau. Das oben erwähnte Schreiben. Damit hat er vielleicht Glück, wenn kroatische Grenzer*innen ihn aufgreifen und kann vielleicht auf familiäre Zusammenführung in Kroatien hoffen.
Wir freuen uns mit ihm. Und wir sind glücklich zu erleben, dass Krankenwagen auch für People on the Move gerufen werden. Und hoffentlich bleibt beim Jungen nur eine Narbe, auf die er später augenzwinkernd zeigen und eine Geschichte erzählen kann.
Später erfahren wir von einer anderen Familie, dass alle diejenigen, die eine Chance auf ein Asylverfahren bekommen und nicht gleich gepushtbackt werden, erst einmal für 14 Tage in Quarantäne nach Zagreb kommen.
Damaskus-Triest: 3070 km, Bagdad-Triest: 3740 km, Teheran-Triest: 4040 km, Kabul-Triest: 6088 km, Islamabad-Triest: 6560 km.
Velika Kladusa-Triest: 227 km.
Jetzt haben es die Menschen soweit gebracht und kurz vor dem Ziel soll alles vorbei sein?
Die Körper werden geschunden. Sie lassen sich schlagen. Schon seit Jahren. Immerhin scheinen sie von den kroatischen Grenzer*innen nicht so gefoltert zu werden, wie von den ungarischen Grenzer*innen (zumindest in 2017). Und nicht immer schlagen die kroatischen Grenzer*innen. Und wenn, dann in der Regel „nur“ die Männern. Und nur ganz selten auch die Kinder. … Sie tragen „zuviel“ Last, sie gehen „zu lange“ Wege, sie machen „zu selten“ Pause – sie haben keine Chance auf Erholung. Die Muskeln werden müde, die Sehnen gereizt, die Haut geht auf, der gesamte Körper ist überfordert.
Wo immer wir ankommen, klagen die Menschen über Körperschmerzen. Sie zeigen uns die Male kroatischer Staatsgewalt und die Fußblasen ihrer eigenen Anstrengungen. Sie möchten eine gereizte Achillissehne fitgemacht bekommen und das Heilmittel gegen den Rückenschmerz.
Nur noch die letzten, verdammten 227 km.
Die Familien werden getrennt. Es gibt die große Gruppe der alleinreisenden, (in der Regel) jungen Männer. Wir haben im Blog aber auch schon von einer Mutter mit ihren 2 Kindern berichtet. Und jetzt kennen wir noch eine Variante mehr: weil die Familie mit ihren 5 Kindern immer wieder von den kroatischen Grenzer*innen entdeckt wird, hat eine Familie beschlossen, dass der Vater mit ein paar Kindern alleine Richtung Kroatien losgeht und die Frau mit den restlichen Kindern in Bosnien warten soll. Wie groß muss die Not für eine solche Entscheidung sein? Wie groß muss die Hoffnung sein, dass ein solcher Plan gelingt? Und der Plan ist ja noch nicht in dem Moment vollendet, in dem der Vater mit den Kindern in Italien, Österreich oder sonstwo ankommt. Die Frau wird mit ihren Kindern lange warten. In einer wasserarmen Gegend, einer nicht-legalen Behausung, …
Geld wird verbrannt. Von kroatischen Grenzer*innen. Oder von ihnen gestohlen. Oder von Schleppern, die ihren Job schlecht machen und sich erwischen lassen. Zusammen mit denen, die sie bezahlt haben. Oder, ganz aktuell, von Schleppern, die nach vier Monaten immer noch nicht aufgetaucht sind, um ihren Job zu machen. 15.000 EUR. Weg.
Satt, sauber, gesund. Wir haben mit Familien gesprochen, die noch bis vor kurzem im nahegelegenen Camp im „Hotel Sedra“ waren. Sie haben es als, den Umständen entsprechend gut beschrieben. Sie wussten aber auch zu berichten, dass es in anderen Camps nicht so gut ist. Aber wenigstens dort war es „gut“. Camp Sedra wird demnächst geschlossen.
Die Bedingungen in den Wäldern, leeren Häusern und alten Industrieanlagen sind nicht so gut. Lokale und ausländische Gruppen versuchen, die Bedingungen zu verbessern. Sie verteilen Lebensmittel und Kleidung. Im Winter organisieren sie Brennholz. Die provisorischen Unterkünfte werden baulich aufgewertet mit „Fenstern“, Öfen, Türen. Im Bereich Buzim bezahlt eine lokale Gruppe die medizinischen Behandlungen im Gesundheitszentrum für People on the Move. Im Bereich Velika Kladusa und Sturlić versucht eine ausländische NRO eine flächendeckende medizinische Versorgung zu gewährleisten – obwohl es verboten ist. Alle stärken die Infrastruktur für das Sein. Es ist gut, dass es diese Strukturen und Gruppen gibt.
Aber niemand möchte hier bleiben. Nur noch verdammte 227 km.
Eigentlich fehlt die Hilfe für den Weg. Es fehlen die Menschen aus der EU, die die Zäune einfach einreißen. Ein Level niedriger: es fehlen die Menschen, die eine sichere Beförderung in Kroatien organisieren. Wahrscheinlich ein ähnliches Level: es fehlen die Menschen, die ohne Bezahlung People on the Move über die Grenzen lotsen. Ein Level niedriger: es fehlen die Strukturen, die die People on the Move auf ihrem eigenen Weg für diesen Weg unterstützen.
Man müsste Schmerzmittel und Bandagen für den Marsch verteilen. Bei den Amateur-Marathonläufen dopen sich die Läufer*innen mit ganz legalen Schmerzmittel auch (deswegen ist der Begriff an dieser Stelle juristisch eigentlich falsch). Denn sie werden gehen. Egal, ob die Sehne reißt, der Rücken bricht oder die Haut aufplatzt. … Man müsste ihnen Schlafsäcke zur Verfügung stellen. … Man müsste ihnen Rucksäcke zur Verfügung stellen – oder Sammelstellen für das private Habe organisieren, um es ihnen dann irgendwann nachzuschicken. … Man müsste ihnen Kartenmaterial von Kroatien und Slovenien, sowie einen Kompass zur Verfügung stellen, damit die Smartphoneabhängigkeit fällt (und mit ihr, die daraus resultierenden Gefahren).
In Bewegung sein, heißt aber auch, einen Schritt zurück machen können. Die People on the Move darüber informieren, dass es Rückkehrhilfen gibt oder Schutzprogramme für Minderjährige. Wer aufgibt, soll nicht daran verenden.
Ich ärgere mich kollosal, dass wir kein Kartenmaterial von Kroatien dabei haben.
Es ist gut, dass wir so wenig spezialisiert sind. Deswegen stehen wir täglich vor den Fragen: Was machen wir hier? Warum? Und mit welcher Perspektive?
Die Endlichkeit unseres Seins vor Ort ist dabei immer ein begleitendes Thema.
Gestern haben wir zum ersten Mal bei einer Gruppe ausschließlich Lebensmittel vorbeigebracht. Es sind die drei Familien mit dem hoffnungslos-zuversichtlichen Vater. An dem Gesicht einer Frau können wir sehen, dass wir einigermaßen gut eingekauft zu haben scheinen. Reis, Mehl, Linsen, Öl, Gemüse, Curry, Salz, Zucker, Tee. Wir übergeben ihnen auch ihr jetzt einziges (Küchen)messer, damit sie die Melonen schneiden können.
Beim Pushback hatten sie „Glück“. Niemand wurde geschlagen und lediglich die Babytragen und das einzige Smartphone wurden zerstört. „Unsere“ Rucksäcke und ihr Gepäck durften sie behalten.
Weil sich jetzt herausstellt, dass eine der Frauen schwanger ist, kann Katja in das Haus gehen. Sie untersucht die Frau, stellt fest, dass es dem Baby gut geht und stellt einen Mutterpass aus. Sie sieht dabei auch, dass diese Familien tatsächlich nur das haben, was sie mit sich tragen. (In anderen Häusern sehen wir sonst auch alte Schuhe, alte Kleidung, Lebensmittel) Kleidung hängt auf Wäscheleinen vor dem Haus – sie haben noch nicht die Kraft verloren, für sich zu sorgen.
Wir fahren weiter und biegen ab auf ein altes Fabrikgelände, auf dem eigentlich nur noch die asphaltierten Flächen existieren. Wir treffen auf 20 von 40 dort lebenden Männern aus Pakistan. Auch sie haben Hunger. Wir haben nichts mehr. Sie bleiben trotzdem freundlich und wirken gut gelaunt. Wir bieten medizinische Hilfe an. Wir behandeln Fußverletzungen, geben Tipps gegen Juckreiz und Bachblüten gegen die innere Unruhe. Katja beobachtet dabei eine kleine Gruppe von Männern, die sich in den Trümmern des einzigen Gebäudes ihre Bärte mit einem Akkurasierer schneiden. Auch hier sorgen sie noch für sich. Und wir versprechen, in zwei Tagen wiederzukommen.
Wir spüren die unterschiedlichen Anspannungen. Hier Familienväter (die in der Regel mit uns kommunizieren), die ihre gesamte Familie im Blick haben müssen, dort einzelne Individuen, die sich als Gruppe organisiert haben. Beide Gruppen haben an diesem Tag Glück, dass wir ausgerechnet bei ihnen in ausgerechnet dieser Stimmung von ihnen und von uns vorbeigekommen sind.
Die drei Familien im Haus haben erkannt (und uns erzählt), dass sie als Gruppe zu groß seien. Beim letzten Game hatten sie ein Smartphone, dass sie zur Notgemeinschaft gemacht hat. Nun haben sie keines mehr. Die 40 Pakistani haben auch kein Smartphone.
Der Vater erzählt es eher resigniert. … Wir haben ein Smartphone dabei und diskutieren. Wir beschließen, jeder Familie einmalig ein Smartphone zu organisieren. Einem Vater geben wir das Smartphone nachdem wir uns von den anderen Vätern haben versichern lassen, dass wir ihnen in zwei Tagen auch je eines vorbeibringen. Der eine Vater mit dem Smartphone kann es kaum glauben und steht mit dem Smartphone in der Hand nur da. Hoffentlich sehen wir nach dem nächsten Game möglichst wenige Familien wieder. Für sie ist es eine Chance mehr. Nur eine Chance.
Den Pakistani würden wir auch gerne Smartphones geben. Die Zahl überfordert uns aber. Wir erklären es, weil wir natürlich gefragt werden. Der am besten englisch sprechende Pakistani gibt einen überraschenden Hinweis. Sie seien gut organisiert und hätten ein System. Wenn sie ein Smartphone besitzen, dann darf es jeder für eine Stunde nutzen und gibt es dann an den Nächsten weiter. Wir versprechen, in zwei Tagen mit einem Smartphone wiederzukommen.
Was wäre passiert, wenn uns die Familienväter bedrängt und gebettelt hätten? Hätten wir dann vielleicht entschieden, nur ein oder kein Smartphone organisieren zu können? Gleiches bei den Pakistani. Wie hätten wir entschieden?
Es ist gut, dass wir nicht spezialisiert sind. Denn dann hätten wir klare Regeln, die unser Leben erleichtern. So haben Katja und ich nur einen groben Leitfaden.
Wir werden den Familien nicht alle vier Tage neue Smartphones kaufen können. Einmal schon. Sie sind vorher irgendwie bis hierher gekommen und sie werden auch nach unserer Anwesenheit Wege suchen müssen. Dieses eine Mal war es einfach nur Glück für sie.
Gestern sind uns einige Mitglieder von drei Familien aus einem Haus begegnet. In diesem Moment hatten wir für sie nur etwas Wasser und Babytragen. Und unseren Facebook-Account. Über ihr einziges Smartphone haben sie uns dann gestern Abend kontaktiert und um materielle Hilfe gebeten. Heute Abend wollen sie wieder ins Game. 8 Erwachsene und 12 Kinder.
[Game: Der Begriff ist hier allgegenwärtig. Er beschreibt den Versuch der Grenzübertritte der People on the Move Richtung EU. Er wird von allen genutzt. Den People on the Move, den Aktivist*innen und Mitarbeiter*innen der NROs, den Verkäufer*innen in den Geschäften.]
Sie haben für jede Familie um je drei Schlafsäcke, je ein Zelt und je einen Rucksack gebeten. Sie erklären dabei, dass eine Familie keinen Schlafsack besitzt, eine Familie einen und eine Familie zwei Schlafsäcke.
Mit was wollten die Familien eigentlich loslaufen, wenn sie am Vortag noch solche Wünsche äußern?
Wir besorgen alles. Naja, Dinge, die hier so genannt werden. Die Schlafsäcke scheinen für diese Jahreszeit wohl brauchbar zu sein. Zumindest berichtete uns das die Familie aus dem Schulhaus, denen wir auch zwei besorgt hatten. Die sogenannten Zelte sind 2×2 Meter groß und laut Verpackung für 5 Personen. Wir sehen sie immer wieder in den Unterkünften. Für uns würden wir sie wahrscheinlich nicht einmal zum Spielen für die Kinder in den Garten stellen. Und auch die Rucksäcke sind nicht das, was zumindest ich bei einer mehrtägigen Wanderung nutzen wollen würde. Aber sie sind ein hier übliches Modell.
Ein Vater hofft, dass sie im Zweifel auf gute Polizisten treffen und sie nicht geschlagen werden und nicht ihr gesamtes Habe zerstört oder geklaut wird. Sie versichern sich auch, dass sie sich bei uns melden dürfen, wenn sie wieder nach Bosnien deportiert werden. Hoffnung und Zuversicht?
Schmeißen wir hier Geld zum Fenster raus? Heute gekauft, morgen von der Polizei verbrannt und übermorgen vielleicht wieder neu gekauft?
Gestern eine Kaiserschnittnaht versorgen und morgen Verbandkontrolle. Mit etwas Glück ist die Wunde in einer Woche verheilt und das Problem ist gelöst. Eine echte Problemlösung, entstanden als „Nebenprodukt“ des schönen Ereignisses der Geburt eines kleinen Menschens. Gut investiertes Geld in das große Pflaster (das in diesem Falle eine Sachspende war).
Schmerzbehandlung, Lebensmittelversorgung und der Kauf von Schuhen und Co. lösen keine Probleme, sondern lindern nur Symptome. Und da ist es eigentlich egal, ob wir Geld für Obst, Paracetamol oder Schlafsäcke ausgeben. Wer entscheidet, was wichtiger ist? Die Menschen sind auf dem Weg.
Aber vielleicht hilft dem Vater in seiner Hoffnungslosigkeit die Zuversicht beim nächsten Scheitern, vielleicht wieder einen wärmenden Schlafsack für seine Familie und sich zu bekommen.
Die Fragmente der Pushbackgeschichte aus Slowenien von Mohssin lassen uns keine Ruhe. Schon 2017 haben wir einen kleines Dokument der illegalen Deportationen an der serbisch-ungarischen Grenze fotografieren können. Gestern fahren wir noch einmal zu dem Haus nahe der kroatischen Grenze. Der Plan ist, Mohssin zu bitten, seine Geschichte aufzuschreiben. Er möchte seine Geschichte gerne aufschreiben. Aber Soffian ist an diesem Tag schneller. Er füllt den Fragebogen von pushbackmap.org aus. Er macht es in Arabisch. Immer wieder reibt er sich die Augen – bevor er die Tränen wegwischen müsste. Wir wissen nicht genau, was er schreibt, aber es muss für ihn wichtig sein. Und während es auf der einen Seite super ist, dass die Flüchtenden hier selbstständig ihre Geschichten aufschreiben können, so merken wir auf der anderen Seite, dass eine Teilhabe, Begleitung oder Nachfrage durch uns über diese verschriftliche Form schwer möglich ist. Mohssin hat den Fragebogen heute ausgefüllt. Ein dritter Flüchtender möchte auch. Er könnte es jetzt selbstständig tun. Aber er hat gewartet bis Mohssin fertig ist und möchte es in meiner Anwesenheit tun. Obwohl ich die meiste Zeit „nur“ dabeisitzen werde. Aber wahrscheinlich ist es das. Teilhabe, nicht alleine lassen, anerkennen. Heute haben Katja und ich aber keine Zeit mehr – wir müssen weg. Morgen wird der dritte Bericht geschrieben. Und es fühlt sich wie ein gutes Ritual an: jeden Tag ein persönlicher Bericht – bis alle, die möchten, ihre Berichte geschrieben haben. Der dritte Flüchtende gibt mir das Gefühl, dass auch er dieses Ritual erkennt und weiß, dass es morgen seine Geschichte ist, die es wert ist, erzählt und gehört (bzw. geschrieben und gelesen) zu werden.
[Wir wundern uns, dass pushbackmap.org den selbstermächtigenden Fragebogen zur Verfügung stellt, die letzten Einträge aber von Mitte 2020 sind, während es beim Border Violence Monitoring Network zwar aktuelle Berichte, aber nicht den selbstermächtigenden Fragebogen gibt. Und das, obwohl eine Vielzahl der beteiligten Gruppen identisch sind. In den nächsten Tagen werden wir dazu Klarheit haben.]
es sind nicht nur die kroatischen Grenzer, die ein inhumanes Grenzregime aufrechterhalten.
Gestern sind wir nach Buzim umgezogen. Man hat uns dort den Kontakt zu zwei unabhängig von einander arbeitenden lokalen Solipersonen hergestellt. In dieser Region gibt es keine offiziellen Camps und keine ausländischen NROs. Überhaupt ist die Region für viele People on the Move nur eine Durchgangsregion Richtung Velika Kladusa. Andererseits gibt es dort mindestens einen „prominenten“ Push-Back-Point. [Wir haben am 19.5. von Menschen berichtet, die genau dort gepushbackt wurden. Einen Tag später, als wir Schuhe und Kleidung zu den Familien in der Schule gebracht haben, kamen uns mehrere größere Gruppen entgegen, die gerade frisch aus Kroatien deportiert wurden.)
Und es gibt mehrere, kleine Squats in und um Buzim herum, in denen Menschen auf der Durchreise leben. Von ihnen kennen wir bisher aber nur einen. Offensiv im Ort danach fragen, trauen wir uns noch nicht. Dafür haben wir noch zuviel Respekt vor den Erzählungen anderer bzgl. Polizei, Abschiebung, Betätigungsverbot. Wie also bekommen wir „einen Fuß in die Tür“?
Erster Schritt: wir haben uns einen Drecks-Facebook-Account angelegt. Auf unserem Aktions-Smartphone. In Serbien wurde 2017 über WhatsApp kommuniziert, hier in Bosnien halt über Facebook.
Zweiter Schritt: Wir haben beim uns „bekannten“ Squat an die Haustüre geklopft und der ersten Person on the Move unsere Unterstützung angeboten und unseren Facebook-Account geteilt. Aktuelle Probleme (bei denen wir hätten unterstützen können) gab es in diesem Moment dort nicht.
Dritter Schritt: Wir sind zur Schule gefahren, von der wir wussten, dass die dort unterstützten Familien nun weg sein müssten. Wir wollten dort aufräumen. Aber: wir trafen dort den Hausmeister, der die sehr sauber hinterlassene Unterkunft gerade inspiziert und unsere Hilfe dankend abgelehnt hat. Einheimische Solidarität. Wir haben für die Zukunft unsere Unterstützung angeboten und sind gefahren.
Vierter Schritt: Parken und Warten auf der Straße, auf der unserer Wahrnehmung nach gepushbackte Menschen den Weg zur Infrastruktur nach Velika Kladusa suchen.
Warten. … Sind wir hier richtig? Auf dieser Straße? In dieser Region? … Warten. …
Dann endlich eine Nachricht von Alma (Rahma) aus Velika Kladusa: Eine Person on the Move ist von einer NRO medizinisch versorgt worden, ist sich aber unsicher, wie es weitergeht. Ob wir dort nachsehen und helfen könnten? Wir freuen uns, von ihr gefragt zu werden, obwohl ist nicht zu unserem örtlichen Arbeitsregion gehört und sagen zu.
Kaum sind wir losgefahren, kommt die erste Facebook-Nachricht aus dem Haus in Buzim. Hassan besitzt seit dem letzten Push-Back kein Smartphone mehr. Ob wir eines beschaffen könnten. Wir sagen zu.
[Smartphone: bei uns ein Statussymbol oder die technische Lösung, um lästigen, direkten Kontakten aus dem Weg zu gehen und manchmal nützliches Werkzeug. Für People on the Move ist es DAS Kommunikationsmittel zu ihren Familien, ihrer Reisegruppe oder Unterstützungsstrukturen. Es ist der Aktenordner für ihre Dokumente (die irgendwo in einer Cloud liegen) und der Kompass für ihre räumliche Orientierung.]
Am Abend treffen wir Hassan und übergeben ihm ein gebrauchtes Smartphone inkl. Powerbank. (Der Verkäufer im Laden erwähnte, dass die Migrants immer diese Powerbank kaufen würden.) Er ist sehr glücklich und bedankt sich. Auch später noch wiederholt via Facebook. In zwei Tagen startet er wieder Richtung Kroatien. …
Doch vorher waren wir noch bei Mohssin. Die Wege sind weit. Zumal die medizinische Anfrage für eine Region gestellt wurde, in der wir eigentlich nicht aktiv sein wollten. Unser erstes Ziel sind zwei Häuser sehr nahe der Grenze. In einem Haus treffen wir ihn und ein halbes Dutzend weitere People on the Move. Wir werden herzlich begrüßt und zum gerade stattfindenden Essen eingeladen – was wir ablehnen, weil das Essen kaum für die Anwesenden reicht. Wir können ihn beruhigen: seine Verletzung sieht gut aus. Und auch die Versorgung der Verletzung sieht gut aus.
Überraschend an diesen Tag für uns: wir haben viel Französisch gesprochen.
Beeindruckend an diesen Tag für uns: alle vier Squats, die wir bisher gesehen haben waren aufgeräumt, gefegt und sauber. In einer Art, wie wir es in Serbien nie gesehen haben. Und obwohl alle People on the Move schon mehrere Push-Backs, z.T. bis zu 27 am eigenen Körper erlebt haben, begegnet uns stets eine Aura der Zuversicht.
Als wir das zweite, sauber aufgeräumte Haus gezeigt bekommen, erzählt Mohssin kurz von seinem letzten Pushback: es war an der slowenisch-kroatischen Grenze. Vor ihm slowenische Grenzer, hinter ihm kroatische Grenzer. Die slowenischen Grenzer haben ihn nicht durchgelassen. Die kroatischen Grenzer haben ihn deportiert.
Mir kann keiner erzählen, dass die slowenischen Grenzer nicht wussten, was sie dort tun. Haben halt nur den Schengen-Raum bewacht. Wenn die kroatischen Grenzer schon nicht die EU-Außengrenze schützen können.
…
Während ich den Blog-Beitrag schreibe, kämpft sich Katja durch Facebook und die ersten neuen Anfragen.
Gestern Abend sind wir in Bosnien angekommen, nachdem wir den ganzen Tag im Auto gesessen haben. Der größte Unsicherheitsfaktor der Reise war tatsächlich der PCR-Test. Und auch wenn das Ergebnis noch rechtzeitig kam: es gibt einige, auch juristische Gründe, von dem Anbieter am Leipziger Flughafen abzuraten.
„Erfreulicher“ waren unsere Grenzerfahrungen. An keiner Grenzen hatten wir Probleme. Außer, dass wir in den selben Schlangen warten mussten, wie alle anderen.
Den heutigen Tag haben wir genutzt, um einen ersten Eindruck vom Land, den Menschen und unserer Umgebung zu bekommen. Wir sind zu Fuß in das 6 Kilometer entfernte Velika Kladusa gelaufen. Dabei haben wir aus der Ferne die ersten „Unterkünfte“ von people on the move in alten Gebäuden gesehen. Und auch im Stadtbild von Velika Kladusa waren sie präsent. Wir konnten Bewegungsachsen und vor ein paar Geschäften „Ansammlungen“ beobachten.
Darüber hinaus hatten wir heute ein erstes Treffen mit einem Menschen von einer NGO aus Deutschland. Er hat uns einen Einblick in die Arbeit „seiner“ NGO und einen kleinen Überblick über die anderen NGOs vor Ort gegeben. Es scheint ein kleines, aber feines Netzwerk zu sein, das schon seit Monaten (Jahren?) in der Umgebung von Velika Kladusa einiges leistet.
Ein Ergebnis dieses Treffens ist, dass wir morgen Kontakt zu einer anderen NGO aufnehmen werden. Wahrscheinlich wird dieser Kontakt ein guter Schritt für uns sein, einen Platz zu finden, in dem wir unsere Fähig- und Fertigkeit einsetzen können – als Ergänzung zu den aktuellen NGO-Aktivitäten.
… es ist schon spät. Zweiter Tag und schon müssen wir uns um unser tägliches Zeitmanagement Gedanken machen.