Uschi:
Noch ein weiterer Tag auf Julias Sofa, aber immerhin mit der Tendenz, dass ich wohl bald „virenfrei“ bin und losfahren kann.
Ich habe heute natürlich laufend die neuen Nachrichten verfolgt. Was mich erschütterte, war ein Beitrag von „Info-Migrant“, dass es unter den Geflüchteten, die in Belarus sind, den Gedanken gibt, einzureisen in die Ukraine und von dort den Weg nach Polen und dann ins restliche Europa zu finden. Wie verzweifelt müssen Menschen sein, dass sie keinen anderen Weg sehen, als durch eine weitere Kriegszone zu flüchten, um endlich an einen Ort zu kommen, an dem sie Frieden vorzufinden hoffen und ein Ende der täglichen Angst.
Und auch an vielen anderen Stellen auf der Welt gehen Krieg, Vertreibung und Pushbacks heute weiter. Von einer syrischen Freundin im Libanon bekam ich eine Nachricht, dass die Nachrichten über die Umzingelung von Mariupol sie an das Aushungern der Bevölkerung von Aleppo, von wo sie stammt, erinnert. Sie schrieb mir:“ Wer kennt das Leben im Krieg wohl besser als wir aus Syrien und Afghanistan.“
Julia:
Langsam haben wir uns „eingegroovt“, verschiedene Treffen in den nächsten Tagen stehen fest. Ich werde etwas ungeduldig, auch wenn ich weiß dass Netzwerkarbeit auch Arbeit ist – und unser Haupt-Ziel, die Pushback-Map als selbstermächtigendes Tool zu verbreiten. Aber ich bin gespannt, wie wir die Pushback-Map hier weiter einbringen können, und wie die Resonanz der People on the Move hier sein wird. Wir haben schon gehört dass einige internationale Initiativen hier über das Border Violence Monitoring Network Interviews machen und Pushbacks dokumentieren, und werden uns auch mit ihnen Treffen um nach Synergien zu suchen. Die Aktivistin in Velika Kladusa fand es jedenfalls erstmal eine gute Idee, unsere Handy-Sticker der Pushback-Map in Essenspakete mit einzupacken. Gleichzeitig wird uns immer klarer, dass es wichtig ist, nicht nur für die Dokumentation der Pushbacks sorgen, sondern auch für die Kampagnen, um diese Praxis wirklich zu beenden. Und das heißt, nach dieser Reise muss es weitergehen. Die Besuche hochrangiger Politiker*innen und die journalistische Berichterstattung hier am Ort haben das bislang jedenfalls nicht geschafft.
Ein Besuch bei einer bosnischen Familie öffnet uns das Herz. Die 10jährige Tochter spricht bereits fließend Englisch, und zeigt uns zusammen mit ihrem 5jährigen Bruder die frisch geschlüpften Küken, die Nachbarschaft, das Grab der Nachbarskatze. Katja und Matthias waren im vorigen Jahr hier gewesen, und die Erinnerungen an gemeinsame Ausflüge und Austausch über Religion und Kultur sind bei der Familie noch sehr lebendig. Damals waren an ihrem Ort viele flüchtende Menschen – sie konnten bei der Familie duschen, die Frau wusch ihre Wäsche… Zur Zeit ist nur ein flüchtender Mann am Ort, der sich wohl meist beim örtlichen „Walmart“ aufhält und Geld für die Weiterreise sammelt, und ab und zu zum duschen zur Familie kommt. Später am Abend, nach einem ausgiebigen gemeinsamen Essen mit der Großmutter, die unten im Haus wohnt, zeigt die Frau ein Video von vor einigen Monaten, von einem der Flüchtenden, nachdem er brutal von der bosnischen Polizei zusammengeschlagen und gefesselt worden war. Das Ehepaar ging dann auf die Polizeistation und protestierte, nahm den jungen Mann mit nach Hause, und der Ehemann stellte klar dass die Polizei keinen Zugriff auf die Personen in seinem Haus hätte. Die Tochter übersetzt: „Die Polizei hier ist schlecht, die Politik ist schlecht, aber die Menschen sind gut.“ Ein anderes Video zeigt, wie ein Mann sich auf der Fahrt unter einem LKW festklammert.
Bevor wir aufbrechen, bringt die Tochter mir noch ein bittersüßes bosnisches Lied bei. Wir verbleiben so, dass die Frau uns Bescheid gibt, was der Mann am Walmart braucht, und wir dann damit und mit Lavendelöl für die verzerrte Schulter der Frau nochmal vorbei kommen.
Auf dem Nachhauseweg durch die Berge erreicht uns die Nachricht von Lenie’s irakischem Mann, der auf seiner Flucht-Odyssee vor vielen Jahren auch einige Zeit in Sarajevo lebte, dass ihre Katze zuhause gestorben ist.