Nur noch die letzten 227 km

Damaskus-Triest: 3070 km, Bagdad-Triest: 3740 km, Teheran-Triest: 4040 km, Kabul-Triest: 6088 km, Islamabad-Triest: 6560 km.

Velika Kladusa-Triest: 227 km.

Jetzt haben es die Menschen soweit gebracht und kurz vor dem Ziel soll alles vorbei sein?

Die Körper werden geschunden. Sie lassen sich schlagen. Schon seit Jahren. Immerhin scheinen sie von den kroatischen Grenzer*innen nicht so gefoltert zu werden, wie von den ungarischen Grenzer*innen (zumindest in 2017). Und nicht immer schlagen die kroatischen Grenzer*innen. Und wenn, dann in der Regel „nur“ die Männern. Und nur ganz selten auch die Kinder. … Sie tragen „zuviel“ Last, sie gehen „zu lange“ Wege, sie machen „zu selten“ Pause – sie haben keine Chance auf Erholung. Die Muskeln werden müde, die Sehnen gereizt, die Haut geht auf, der gesamte Körper ist überfordert.

Wo immer wir ankommen, klagen die Menschen über Körperschmerzen. Sie zeigen uns die Male kroatischer Staatsgewalt und die Fußblasen ihrer eigenen Anstrengungen. Sie möchten eine gereizte Achillissehne fitgemacht bekommen und das Heilmittel gegen den Rückenschmerz.

Nur noch die letzten, verdammten 227 km.

Die Familien werden getrennt. Es gibt die große Gruppe der alleinreisenden, (in der Regel) jungen Männer. Wir haben im Blog aber auch schon von einer Mutter mit ihren 2 Kindern berichtet. Und jetzt kennen wir noch eine Variante mehr: weil die Familie mit ihren 5 Kindern immer wieder von den kroatischen Grenzer*innen entdeckt wird, hat eine Familie beschlossen, dass der Vater mit ein paar Kindern alleine Richtung Kroatien losgeht und die Frau mit den restlichen Kindern in Bosnien warten soll. Wie groß muss die Not für eine solche Entscheidung sein? Wie groß muss die Hoffnung sein, dass ein solcher Plan gelingt? Und der Plan ist ja noch nicht in dem Moment vollendet, in dem der Vater mit den Kindern in Italien, Österreich oder sonstwo ankommt. Die Frau wird mit ihren Kindern lange warten. In einer wasserarmen Gegend, einer nicht-legalen Behausung, …

Geld wird verbrannt. Von kroatischen Grenzer*innen. Oder von ihnen gestohlen. Oder von Schleppern, die ihren Job schlecht machen und sich erwischen lassen. Zusammen mit denen, die sie bezahlt haben. Oder, ganz aktuell, von Schleppern, die nach vier Monaten immer noch nicht aufgetaucht sind, um ihren Job zu machen. 15.000 EUR. Weg.

Satt, sauber, gesund. Wir haben mit Familien gesprochen, die noch bis vor kurzem im nahegelegenen Camp im „Hotel Sedra“ waren. Sie haben es als, den Umständen entsprechend gut beschrieben. Sie wussten aber auch zu berichten, dass es in anderen Camps nicht so gut ist. Aber wenigstens dort war es „gut“. Camp Sedra wird demnächst geschlossen.

Die Bedingungen in den Wäldern, leeren Häusern und alten Industrieanlagen sind nicht so gut. Lokale und ausländische Gruppen versuchen, die Bedingungen zu verbessern. Sie verteilen Lebensmittel und Kleidung. Im Winter organisieren sie Brennholz. Die provisorischen Unterkünfte werden baulich aufgewertet mit „Fenstern“, Öfen, Türen. Im Bereich Buzim bezahlt eine lokale Gruppe die medizinischen Behandlungen im Gesundheitszentrum für People on the Move. Im Bereich Velika Kladusa und Sturlić versucht eine ausländische NRO eine flächendeckende medizinische Versorgung zu gewährleisten – obwohl es verboten ist. Alle stärken die Infrastruktur für das Sein. Es ist gut, dass es diese Strukturen und Gruppen gibt.

Aber niemand möchte hier bleiben. Nur noch verdammte 227 km.

Eigentlich fehlt die Hilfe für den Weg. Es fehlen die Menschen aus der EU, die die Zäune einfach einreißen. Ein Level niedriger: es fehlen die Menschen, die eine sichere Beförderung in Kroatien organisieren. Wahrscheinlich ein ähnliches Level: es fehlen die Menschen, die ohne Bezahlung People on the Move über die Grenzen lotsen. Ein Level niedriger: es fehlen die Strukturen, die die People on the Move auf ihrem eigenen Weg für diesen Weg unterstützen.

Man müsste Schmerzmittel und Bandagen für den Marsch verteilen. Bei den Amateur-Marathonläufen dopen sich die Läufer*innen mit ganz legalen Schmerzmittel auch (deswegen ist der Begriff an dieser Stelle juristisch eigentlich falsch). Denn sie werden gehen. Egal, ob die Sehne reißt, der Rücken bricht oder die Haut aufplatzt. … Man müsste ihnen Schlafsäcke zur Verfügung stellen. … Man müsste ihnen Rucksäcke zur Verfügung stellen – oder Sammelstellen für das private Habe organisieren, um es ihnen dann irgendwann nachzuschicken. … Man müsste ihnen Kartenmaterial von Kroatien und Slovenien, sowie einen Kompass zur Verfügung stellen, damit die Smartphoneabhängigkeit fällt (und mit ihr, die daraus resultierenden Gefahren).

In Bewegung sein, heißt aber auch, einen Schritt zurück machen können. Die People on the Move darüber informieren, dass es Rückkehrhilfen gibt oder Schutzprogramme für Minderjährige. Wer aufgibt, soll nicht daran verenden.

Ich ärgere mich kollosal, dass wir kein Kartenmaterial von Kroatien dabei haben.

227 km.

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