Zwischen Mutterpass und Tränengas

Sonntag, 10.4.2016, 22.30 Uhr

Schwangerenvorsorge auf einer Tankstelle – Mutterpass ausgestellt- Eindrücke gesammelt- Ortswechsel ins Hauptcamp in Idomeni- Tränengasangriff tränennah miterlebt- Baby, Kinder, Erwachsene, die heulend davon liefen- Notfalbachblütenbonbons an aufgelöste Kinder verteilt- Babys einfach nur gehalten- Tragehilfen für Babys verteilt- Mütter in Autos vor dem beißenden Gas geschützt- Wut im Bauch- müde

Am Morgen mussten wir uns noch in unserer neuen Umgebung einrichten. Wir stehen gut und sicher. Die Solaranlage funktioniert, wir sind autark.

Dokumentation - sehr vereinfacht

Dokumentation – sehr vereinfacht

Am späten Vormittag geht es nach EKO. Eine Tankstelle auf dem Weg Richtung Süden. Dort „wohnen“ immer noch mehrere hundert Menschen. Wir lassen das Camp auf uns wirken. Eine Frau lächelt uns an und die Arbeit beginnt: Katja spricht sie auf Babies an. Die Frau führt Katja zu einem Zelt. Die dort lebende, werdene Mutter bittet Katja in ihr Zelt. 29. Woche. Die Frau erhält ein Dokument – den Mutterpass. In Woltersdorf haben wir erlebt, dass Dokumente für Geflüchtete wichtig sind. Diese Mutter und ihr Baby haben nun ein solches Dokument. Katja verabredet einen neuen Termin. Kaum ein paar Meter gegangen gibt es zwei weitere (werdende) Mütter, die den Kontakt zu Katja suchen. Die Idee, durch das Camp zu gehen und die (werdenden) Mütter zu finden, scheint zu funktionieren.

Zwischenzeitlich erreicht uns die Nachricht von Gewalt im Camp in Idomeni. Gummigeschosse, Schlagstöcke, Gas, so die Info. Wir fahren hin und treffen „unseren“ Arzt vor der Hauptzufahrt. Er versorgt Menschen, die das Camp wegen der Gewalt vorübergehend verlassen. Es ist 16 Uhr. Die Bilder von Geflüchteten am Zaun sind vorbei (die Bilder, die durch die Medien gingen). Trotzdem verschießt das mazedonische Militär immer noch Gas. In vielerlei Hinsicht ein absurdes Szenario:

Mazedonien beschießt Griechenland, Mazedonische Helikopter kreisen über Griechenland – und die griechische Polizei schaut zu.

Je nach Windrichtung treibt die Gaswolke zurück nach Mazedonien oder zu uns herüber. Und wir sind mehrere hundert Meter entfernt. Auf einer Wiese vor dem Zaun gibt es Geflüchtete, die das mazedonische Militär vielleicht als Bedrohung ansehen könnte. Trotzdem schießen sie aber auch über deren Köpfe hinweg in Wohnbereiche mit Zelten.

Während in diesem Teil des Camps Krieg herrscht, ist in anderen teilen des Camp davon nicht viel zu spüren. Die Kinderbetreuung der Unabhängigen wird betrieben, die Geflüchteten stehen für Tee oder Essen an, … Zwei Welten auf engem Raum.

Wenn der Wind Richtung Griechenland weht, verstärkt das mazedonische Militär seine Gasbeschuss. Über Stunden das immer wiederkehrende Szenario: Gasgranten, die vor oder inmitten der Wohnzelte detonieren, Familien flüchten, lasse ihr Hab und Gut zurück, kommen bei uns vorbei, werden notfallmäßig versorgt, gehen ein paar hundert Meter weiter – in sichere Bereiche. Kaum scheint sich die Lage zu beruhigen, kehren sie zurück. Sie haben Angst, dass sie beklaut werden. Alle, die vor der akuten Gasbedrohung geflohen sind, kehren zurück – um eine Stunde später wieder zu fliehen. Es sind viele Kinder dabei, viele Babies. Einige Mütter mit Babies setzen wir zum Schutz in unsere Autos.

Gegen 19 Uhr, kurz nach einem heftigeren Beschuss fängt es an zu regnen. Die ersten Regentropfen sind gasverseucht und ätzend. Aber danach wird es ruhiger.

Vereinzelt ist weiterer Beschuss zu hören. diemal müsste er im Bereich der MSF-Ärtzte sein. Fluchtbewegungen sehen wir keine. Wir entschließen uns, zu fahren. Wir fahren im „sicheren“ Bereich auf eine Gruppe mit vielen Müttern und Kindern zu. Katja möchte noch Tragehilfen verteilen – wir halten an. Katja öfnnen die Tür und reagiert körperlich. In dem Moment reagiert auch die Gruppe körperlich. Der Wind hat es geschafft, das Gas bis hierher zu tragen. Es scheint, ein Schock zu sein. Sicher weit weg und doch getroffen werden. Wir verteilen Rettungsdecken an die ausgekühlten Kinder, Notfalltropfen und – dragees an Kinder und Eltern – eine Wolke „in Sicherheit“ hat mehr Schrecken verbreitet, als der Konflikt in Zaunnähe. Die Gruppe entspannt – um Richtung ihres Hab und Guts gen Grenze zu ziehen.