Heute vor zwei Wochen sind wir hier in Nordbosnien angekommen. Nicht richtig vorbereitet waren wir auf eine Situation, in der wir einen Ersatzbeleg für unsere Ausgaben wie den folgenden ausstellen mussten:
Spritgeld für lokale Soliperson, die wiederholt Flüchtende aus dem Wald ins Krankenhaus gefahren hat, nachdem diese von der bosnischen Polizei gekidnapped und mißhandelt wurden.
Wir waren davon ausgegangen, dass vor allen Dingen die kroatische Polizei Gewalt gegen Menschen einsetzt, die bosnischen Behörden dagegen doch eigentlich froh sein müssten, wenn die Migrant*innen das Land möglichst schnell verlassen. Aber anscheinend haben wir uns da getäuscht.
Hier seht ihr einmal, wo wir uns in Bosnien befinden:
Wir haben in der letzten Zeit immer mal wieder ein öffentliches Tagebuch geschrieben. Wenn ihr diesen Link anklickt, kommt ihr auf unsere Hompage und landet da auf einem Blog 2021.
Dort findet ihr unter anderem folgende Einträge:
19. Mai 2021
Eine andere Gruppe aus 11 Personen lagert ein Stück weiter am Straßenrand. Die Gesichter sind regungslos. Ein 2-jähriges Kind summt immer die selbe Melodie vor sich in. Die Frauen klagen über Atemnot und Übelkeit. Die Männer seien geschlagen worden von der kroatischen Polizei vor der Rückschiebung (Push-Back). Es ist sehr still. Wir holen Bananen und Äpfel aus dem Kofferraum. Es fehlt die Energie, sie zu essen. Wir setzen uns zu ihnen. Es ist nicht die richtige Zeit zum reden. Einfach da sein. Den Kummer, die Verzweifelung spüren. Nichts gut machen wollen, weil nichts da ist zum gut machen. So viel Hilflosigkeit und Ohnmacht. Da sitzen 7 Erwachsene im Dreck am Rande der Straße, sechs Kinder liegen daneben und alles 1300 km von Meußließen, 1345 km von Gedelitz entfernt (wie weit ist Mallorca entfernt?- ich werde zynisch- gerade nachgeguckt: 2100km). Vor unserer Haustür halten wir Zentraleuropäer Menschen davon ab, eine Heimat zu finden, wir jagen sie durch Wälder (mit Hilfe von privaten Sicherheitsdiensten und Frontex) und dass alles auf europäische Weisung und finanziert durch jeden von uns.
21. Mai 2021
Kaum sind wir losgefahren, kommt die erste Facebook-Nachricht aus dem Haus in Buzim. Hassan besitzt seit dem letzten Push-Back kein Smartphone mehr. Ob wir eines beschaffen könnten. Wir sagen zu.
[Smartphone: bei uns ein Statussymbol oder die technische Lösung, um lästigen, direkten Kontakten aus dem Weg zu gehen und manchmal nützliches Werkzeug. Für People on the Move ist es DAS Kommunikationsmittel zu ihren Familien, ihrer Reisegruppe oder Unterstützungsstrukturen. Es ist der Aktenordner für ihre Dokumente (die irgendwo in einer Cloud liegen) und der Kompass für ihre räumliche Orientierung.]
22. Mai 2021
Später erklärt sie offen, sie würde sich manchmal nicht sicher mit Fremden fühlen. Und wir wären ja Fremde – eigentlich. Auch da stößt sie was an, will etwas von mir und ich steige ein. An diesem Ort, wo ihr Vater wahrscheinlich Männer getötet hat, sie sich unsicher fühlt, erkläre ich ein ganz wenig von der Idee des Transgenerationalen Traumas, dass es Dinge gibt, die nicht uns passiert sind, sondern unseren Eltern und Großeltern und die wir trotzdem noch ein wenig in uns tragen. Ich habe das Gefühl, plötzlich fügt sich was in ihrem Innern zusammen, sie atmet ein wenig freier, sucht noch mehr meine Nähe. Sie ist schon so weise und dabei noch so klein. Aber sie hat eine Geschichte, eine jugoslawische, bosnische, muslimische Geschichte. Und sie hört viele Geschichten der Migrants.
24. Mai 2021
Gestern fahren wir noch einmal zu dem Haus nahe der kroatischen Grenze. Der Plan ist, Mohssin zu bitten, seine Geschichte aufzuschreiben. Er möchte seine Geschichte gerne aufschreiben. Aber Soffian ist an diesem Tag schneller. Er füllt den Fragebogen von pushbackmap.org aus. Er macht es in Arabisch. Immer wieder reibt er sich die Augen – bevor er die Tränen wegwischen müsste. Wir wissen nicht genau, was er schreibt, aber es muss für ihn wichtig sein. Und während es auf der einen Seite super ist, dass die Flüchtenden hier selbstständig ihre Geschichten aufschreiben können, so merken wir auf der anderen Seite, dass eine Teilhabe, Begleitung oder Nachfrage durch uns über diese verschriftliche Form schwer möglich ist. Mohssin hat den Fragebogen heute ausgefüllt. Ein dritter Flüchtender möchte auch. Er könnte es jetzt selbstständig tun. Aber er hat gewartet bis Mohssin fertig ist und möchte es in meiner Anwesenheit tun. Obwohl ich die meiste Zeit „nur“ dabeisitzen werde. Aber wahrscheinlich ist es das. Teilhabe, nicht alleine lassen, anerkennen. Heute haben Katja und ich aber keine Zeit mehr – wir müssen weg. Morgen wird der dritte Bericht geschrieben. Und es fühlt sich wie ein gutes Ritual an: jeden Tag ein persönlicher Bericht – bis alle, die möchten, ihre Berichte geschrieben haben. Der dritte Flüchtende gibt mir das Gefühl, dass auch er dieses Ritual erkennt und weiß, dass es morgen seine Geschichte ist, die es wert ist, erzählt und gehört (bzw. geschrieben und gelesen) zu werden.
Wir freuen uns, wenn ihr auch weiterhin einen Teil unseres Weges mit uns geht, indem ihr das Tagebuch weiterverfolgt oder uns finanziell unterstützt. Das Smartphone ist hier die Rettungsleine, an der sich die People on the Move über die Grenzen hangeln. Fast immer wird es von den kroatischen Grenztruppen geklaut oder zerstört. Nach jedem Push Back fühlen sich die Menschen hilfloser denn zuvor, mit ihren Verletzungen und ohne Orientierung, da das Smartphone fehlt. Ein gebrauchtes Smartphone kostet hier zwischen 65€ und 80€. Das ist viel Geld und doch entscheiden wir uns immer wieder im Einzelfall ein solches weiterzugeben. Dazu kommen Kosten für Schuhe, Hosen, Schlafsäcke, die wir vor Ort besorgen können. Als Wegzehrung verteilen wir immer wieder Schokolade und Obst. Eine Basisversorgung mit Lebensmitteln bieten wir nicht an, da dies eine bosnische Organisation zum Schwerpunkt hat.
Einen ganz herzlichen Dank möchten wir allen Spender*innen aussprechen, die bisher die ersten Wochen solidarische Unterstützungsarbeit in Bosnien möglich machten.
Ihr seht: Wir sind vielfältig unterwegs mit euerer finanziellen Unterstützung und euren guten Gedanken. Übrigens: Es gibt über und unter dem täglichen Blogeintrag eine Kommentarfunktion. Wir freuen uns, wenn ihr auch diese nutzen würdet.
Wir grüßen euch ganz herzlich
Salaam und Ciao
Katja und Matthias
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